Buchtipps
Harro & Libertas
Nach seinem Weltbestseller „Der totale Rausch“ (keine Übertreibung: u. a. New York Times und Los Angeles Times Bestsellerliste!) über den…
Nach seinem Weltbestseller „Der totale Rausch“ (keine Übertreibung: u. a. New York Times und Los Angeles Times Bestsellerliste!) über den bewussten Einsatz von Drogen im Dritten Reich für die Soldaten und Hitler selbst, hat Norman Ohler (der Schriftsteller, Drehbuchautor, Filmemacher) wieder eine extrem aufwändige Recherche betrieben und ein erzählendes Sachbuch über die Widerstandsgruppe geschrieben, die unter der von den Nazis gewählten Bezeichnung „Rote Kapelle“ bekannt wurde. Es geht um die Hauptfiguren Harro und Libertas Schulze Boysen, die in den 30ern zur Berliner Boheme gehörten und zu einer Gruppe Idealisten, die trotz Diktatur und extremer Unterdrückung ein Leben mit freier Liebe, Literatur und Partys leben wollten. Während des Krieges versuchten sie, geheime Infos an die Alliierten, an die Russen UND die Engländer, zu vermitteln, um Hitlers Krieg zu stören. Mit Flugblättern, Briefen und Fotos klärten sie unter Einsatz ihres Lebens die Öffentlichkeit über die Gräueltaten der Nazis auf. Viele von ihnen endeten am Strang oder auf der Guillotine. In der DDR galten sie als Helden, im Westen ignorierte man sie lieber (weil sie Infos an die Russen gegeben hatten), hier machten unfassbarerweise eher ihre einstigen Verfolger und Peiniger teilweise noch Karrieren in westlichen Behörden. Normans Buch liest sich wie ein packender Roman, ist aber die wahre Geschichte von „Harro & Libertas“.
Hasstagebuch
Ein Leben in Wien: Die Künstlerin als Schülerin und junge Frau in verlotterten Zusammenhängen.
Ein absoluter Höhepunkt des Abends war die Lesung der Wiener Autorin und Zeichnerin Stefanie Sargnagel. Zuletzt hatte die Österreicherin das Buch „Dicht“ veröffentlicht, die „Aufzeichnungen einer Tagediebin“, ein einfühlsamer, trauriger, und dabei urkomischer Bericht über ihre verlotterten und versoffenen Schultage in Wien. Beim Writers´ Thursday widmete sie sich aber anderen Herzensthemen, dem komplexen Geschlechterverhältnis, der Liebe, dem Sex, der körperlichen Gier und der dabei oft auch spürbaren Ratlosigkeit und Lächerlichkeit. Sie las diverse Kurztexte und Teile einer von ihr verfassten Rede zum Thema, so schlau und lustig, wie das nur Stefanie Sargnagel kann. Nahezu unbemerkt und nahtlos gehen bei ihr mündlicher Vortrag und gelesene Texte im schönsten Wienerisch ineinander über – es wurde laut und viel gelacht. Herrlich!
Hast du uns endlich gefunden
Edgar Selge, seit vielen Jahren einer der profiliertesten und eindeutig besten Schauspieler Deutschlands, hat mit „Hast Du uns endlich gefunden“…
Edgar Selge, seit vielen Jahren einer der profiliertesten und eindeutig besten Schauspieler Deutschlands, hat mit „Hast Du uns endlich gefunden“ ein ergreifendes, fulminantes Debüt hingelegt. Wer ihn bisher nur als Kommissar Tauber aus Polizeiruf 110 kannte oder als unzählige Male preisgekrönten Theater- und Filmmenschen, wird ihn hier als begnadeten Literaten entdecken. Aus der Perspektive eines 12jährigen Edgar mit leicht kleinkriminellen Neigungen wird eine Jugend in Westfalen in den 50er/60er Jahren geschildert. Der Vater ist Gefängnisdirektor und klavierspielender Klassikliebhaber, der Haushalt zutiefst bürgerlich, aber schon bald zeigen sich überall Risse in der scheinbar glatten Oberfläche. Die Eltern haben die Kriegs-Niederlage des geliebten Vaterlandes noch nicht überwunden, das Gift des Antisemitismus schwappt weiter in ihnen, der Vater prügelt den Sohn bei jeder Gelegenheit gnadenlos, als ob er die Welt mit Ohrfeigen ordnen wolle, wie es an einer Stelle heißt, und ist auch sonst unangenehm körperlich übergriffig. Nur die Kunst, die klassische Musik scheint die Familie überhaupt noch zusammenzuhalten, manchmal. Edgar Selge zeichnet mit zurückhaltender Sprache und prägnanten Beschreibungen ein erschütterndes Bild eines Nachkriegsdeutschlands, in dem der Schatten der Nazi-Herrschaft noch über allem liegt und in der Stadt bekannte Kriegsverbrecher mit lächerlichen Strafen davonkommen. Und in der die Kinder trotz dieser Enge mental zu überleben versuchen – und auch weiter ihre Eltern lieben wollen. Trotz dieser düsteren Kulisse ist das Buch auch immer wieder komisch und lustig. Wir freuen uns schon auf das zweite Buch.
Hätt ich ein Kind
Aus Berlin war als erste Leserin in Hamburg die wunderbare Schriftstellerin Lea Streisand angereist, die lustige und scharfsinnige Chronistin des…
Aus Berlin war als erste Leserin in Hamburg die wunderbare Schriftstellerin Lea Streisand angereist, die lustige und scharfsinnige Chronistin des Alltags, die in ihren Kolumnen (taz: „Immer bereit“, radio eins: „War schön jewesen“) und Büchern („Im Sommer wieder Fahrrad“, „Hufeland Ecke Bötzow“) die menschlichen und allzumenschlichen Schwächen, Absurditäten, Sehnsüchte und Nöte auslotet. Eigentlich ist das Prinzip des Writers´ Thursday so: kurze Einführung von Buch und Autor:in durch den Gastgeber, dann soll sofort gelesen werden. Aber Lea Streisand hat sozusagen eine „Ausnahmegenehmigung“, denn nicht nur berlinert niemand schöner als sie, sie hat auch eindeutig sehr überzeugende Stand-up-Comedy-Qualitäten. Deswegen erklärte sie nochmal kurz, wie seltsam das Mutter- und Frauenbild in den Grimmschen Märchen ist (Warum sind in den Märchen so viele Frauen kinderlos oder die echten Mütter nie da oder tot oder wollen ihre Kinder umbringen? Und warum hatte Schneewittchen einst blonde, nicht schwarze Haare?), denn eine ihrer Protagonistinnen in ihrem neuen Buch „Hätt` ich ein Kind“ promoviert genau über diese Grimmschen Märchen – während sie verzweifelt versucht, sich ihren Kinderwunsch durch eine Adoption zu erfüllen. Es geht um existenzielle Fragen (Warum will man unbedingt Mutter werden? Ist man eine „richtige“ Mutter, wenn man das Kind nicht selber gebärt?), bürokratischen Irrsinn und die Suche nach Sinn und Glück. Und das erzählt Lea Streisand so komisch, selbstironisch und unpathetisch, dass die Lektüre ein großer Spaß ist.
Heilung
Ein Mann in einer Lebenskrise sucht Heilung in einem geheimnisvollen Resort in den Dolomiten, wo er trotz allen Achtsamkeistsbrimborium merkt, dass die Decke der Zivilisation manchmal nur dünn ist.
Timon Karl Kaleyta verzauberte alle Zuhörer:innen mit seinem Roman „Heilung“, der uns in die verschneiten Dolomiten führte, in das Nobelresort San Vita, wo ein Mann Mitte 40 hofft, von seiner Schlaflosigkeit loszukommen, die sein Leben unerträglich macht. Die Idee dazu kam von seiner Frau Imogen, für die er seine eigene Karriere aufgegeben und in deren Dienst er sich gestellt hat. Er selbst hat eigentlich keine großen Ideen, Visionen, Perspektiven, es ist eine Mischung aus Midlife Crisis und Identitätszweifel, die ihn plagt. Im Resort diagnostiziert ihm der Chef des Resorts, Professor Trinkl, sehr schnell ein „inneres Unbehagen“, das ja generell überall zunehme, persönlich und auch gesellschafltich. Und es klingt so, als wolle er ihm dieses „Unbehagen“ eher einreden. Der Mann genießt einerseits das idyllisch gelegene Resort in den verschneiten Bergen, die Atmosphäre aus Achtsamkeitsschule und Wohlfühloase, bleibt aber skeptisch gegenüber der Diagnose und den Methoden. Denn zu sehr will er sich gar nicht mit seinem Innersten und Vergangenem, wie es empfohlen wird, konfrontieren. Er beobachtet seltsame Knechte, widersteht Verführungen und spürt, dass am diesem besonderen Ort, der so nach Reinheit, Klarheit und Frieden zu streben scheint, unter der Oberfläche vielleicht nicht nur latent die Drohung von Autorität und Gewalt lauert. Als er zu einem lange vernachlässigten Jugendfreund eilt, der seinerseits den Zumutungen der Zivilisation nicht durch seltsame Heilmethoden, sondern durch maximale Naturnähe zu entkommen versucht, merkt der Mann, das er auch hier falsch ist. Und zieht seine Konsequenzen. „Heilung“ ist spannend, bedrohlich, lustig, absurd und unheimlich, kurzum: eine absolute Leseempfehlung.
Herrndorf
Für Tobias Rüther ist Wolfgang Herrndorf, der verstorbene Autor des Millionenbestsellers "Tschick" der größte Schriftsteller seiner Generation.
Sachbücher haben wir selten, aber bei Tobias Rüthers (Literaturchef der F.A.S.) großartiger Biographie „Herrndorf“ über den 2013 verstorbenen Schriftsteller Wolfgang Herrndorf haben wir gerne eine Ausnahme gemacht. Denn jeder kennt Herrndorfs Jugendroman (millionenfach verkauft) „Tschick“, die anrührende Geschichte der 14jährigen Jungen Maik und Tschick und ihrer Flucht in einem Lada Richtung Walachai. Nicht nur für Tobias ist Herrndorf, der sich 2013 wegen eines unheilbaren Gehirntumors das Leben nahm, war er “der größte deutschsprachiger Schriftsteller seiner Generation“. Viele werden nicht gewusst haben, dass Herrndorf ursprünglich Maler werden wollte, alte Meister wie Vermeer und Dürer bewunderte und schon früh eine „Zeitung für Schwachsinnige“ herausgab. Nach einem Kunststudium in Nürnberg zeichnete er für die „Titanic“, später schrieb er auch für das Blatt. Langsam wurde er zum Autor. In Berlin und auf Plattformen wie „Wir höflichen Paparazzi“ fand der Freunde, mit denen er sich intensiv über Texte und Themen austauschte. Zu Lebzeiten veröffentlichte er vier Bücher (In Plüschgewittern, Diesseits des Van Allen Gürtels, Tschick und Sand – für Sand bekam er den Preis der Leipziger Buchmesse), posthum erschien sein Blog „Arbeit und Struktur“ als Buch – sowie das Romanfragment „Bilder deiner Liebe“. Tobias Rüther lässt ein sehr genaues, plastisches Bild des Wolfgang Herrndorf als getriebener, akribischer Künstler entstehen, dessen Lebensweg und Schaffen er mit großer Sympathie beschreibt, ohne je in Heldenverehrung abzudriften. Wir lernen einen genialen und getriebenen Schriftsteller kennen, der sich oft missverstanden fühlt, mit Selbstzweifeln, den eigenen Ansprüchen und seinem ausgeprägten Perfektionsdrang kämpft. Auch für die Phasen der unheilbaren Krankheit Herrndorfs findet Tobias den richtigen, taktvollen Ton. Jede Wette: Wer „Herrndorf“ durch hat, rennt sofort zum Bücherregal und liest „Tschick“ noch einmal. Absolute Leseempfehlung!
Hinterher
Aus seinem eindrucksvollen Debüt „Hinterher“ las Finn Job (im Bild rechts, mit Timo Lindeman vorm Borchardt vor den Lesungen) beim…
Aus seinem eindrucksvollen Debüt „Hinterher“ las Finn Job (im Bild rechts, mit Timo Lindeman vorm Borchardt vor den Lesungen) beim Writers´ Thursday, der leidenschaftliche Proust-Fan, der lieber schreibt und kellnert statt zu studieren. Der Erzähler hält es in Berlin nicht mehr aus, er ist genervt von der Ehrgeizlosigkeit seiner Umgebung und der Gewalt gegen Schwule und Juden, die er selbst erfahren hat. Sein Freund Chaim ist auch deswegen zurück nach Tel Aviv gezogen, der Trennungsschmerz zerrt heftig an ihm. Er fühlt Überdruss, gepaart mit Wut und manchmal Hass gegen sich und seine Umwelt, die Speed- und Koks-Lines machen es nicht besser. Er schmeißt seinen Job in einer Techno-Bar und lässt sich von seinem Künstler-Freund Francesco überreden, nach Nordfrankreich zu fahren. Ziel ist eine alte Villa, die ein gewisser Gédéon – leicht exzentrisch und drogenabhängig – zum Hotel umbauen will. Francesco selbst will eine alte Kirche zum innen verspiegelten Kunstwerk machen. Es beginnt eine Art Roadmovie durch zerklüftete Seelen- und Trauerlandschaften gen Normandie mit großen Drogenmengen im Gepäck, wobei es niemals ums Feiern geht, sondern immer nur um die Distanzierung zur Echtwelt, um Flucht. Der Erzähler fühlt sich verlassen und verraten, sein Sehnsuchtsmensch Chaim ist weg, seine woken Freunde in Berlin haben sich von ihm abgewandt, weil er sich einmal wütend über homophobe muslimische Jugendliche geäußert hatte, die ihn und Chaim wegen eines Kusses auf der Straße in Neukölln verfolgt hatten und denen er nur knapp entkommen war. Es geht um ein Gefühl der Verlorenheit und die Frage nach den Ursachen dieser grundlegenden Melancholie. Welchen Anteil hat die Vergangenheit des Landes? An einer Stelle heißt es: „Chaim hatte immer gesagt, das Leben nach der Shoah fühle sich an, als sei es eine einzige Farce, ein einziges Danach, ein Hinterher.“ Blitzschnell und extrem stilsicher wechselt Finn Job zwischen Proustverehrung und Trash, zwischen Drogenexzess und Kunst- und Kulturverweisen.
Hope Street
Erfahrener Musiker, aber Buch-Debütant: Campino las aus seinem wirklich großartigen Werk „Hope Street – wie ich einmal englischer Meister wurde“.…
Erfahrener Musiker, aber Buch-Debütant: Campino las aus seinem wirklich großartigen Werk „Hope Street – wie ich einmal englischer Meister wurde“. Es geht um seine Leidenschaft für den Liverpool FC (man beachte die YNWA – You Never Walk Alone Kappe) und England (er ist ja Deutsch-Brite), vor allem aber um seine bewegende Familiengeschichte – die sich wie ein bundesrepublikanischer Entwicklungsroman liest. Sein Vater, ein Stalingrad-Überlebender des 2. Weltkrieges, heiratete schon 1948 seine britische Mutter, wofür diese kurzzeitig sogar die britische Staatsbürgerschaft entzogen bekam, Hitler-Deutschland war gerade erst drei Jahre zuvor besiegt worden. Beim Writers´ Thursday in Flakes Garage las Campino vor allem einen Abschnitt vor, in dem er seinen stürmischen Alltag im Elternhaus in Mettmann (nahe Düsseldorf) mit fünf Geschwistern schilderte. Campino beschreibt in späteren Kapiteln, wie er nach dem Tod des Vaters erstmals dessen Briefe aus dem Krieg las und den Eindruck hatte, diesen Menschen jetzt erst besser zu verstehen. Und dass er ihn oft ungerecht behandelt hat und ihm gerne noch sehr viele Fragen gestellt hätte. Das Buch wirft Fragen auf, die jeden Leser berühren: Wie gut kenne ich meine Eltern wirklich? Bin oder war ich neugierig genug? Habe ich die richtigen Fragen gestellt?
Hund Wolf Schakal
Ein packendes, spannendes, erfrischend hartes Debüt hat Behzad Karim Khani mit „Hund Wolf Schakal“ hingelegt. Es geht um den (anfangs)…
Ein packendes, spannendes, erfrischend hartes Debüt hat Behzad Karim Khani mit „Hund Wolf Schakal“ hingelegt. Es geht um den (anfangs) elfjährigen Saam und seinen kleinen Bruder Nima, die mit ihrem Vater Jamshid nach der Hinrichtung der Mutter durch das islamistische Regime wenige Jahre nach der Revolution aus dem Iran nach Deutschland auswandern. Der Vater kämpfte einst als Kommunist und Guerilla gegen das Schah-Regime und verlor bei einem Attentat ein Bein, in Deutschland versucht er als Taxifahrer mit seinen beiden Söhnen in Neukölln eine neue Existenz aufzubauen – als einzige Perser im arabisch dominierten Kiez, wie es an einer Stelle heißt. Es sind die chaotischen Post-Wende-90er-Jahre im koksverseuchten wiedervereinigten Berlin. In ihrem Viertel herrscht ein rauer Ton und oft genug auch Gewalt. Während der Vater damit beschäftig ist, sein Leben neu zu sortieren und die manchmal doch recht seltsamen Deutschen – etwa ihre skurrile Schrebergarten-„Kultur“ – zu verstehen, muss sich Saam draußen behaupten, er will kein Opfer sein, sondern sein Leben selbst bestimmen können. Er sucht die Nähe der arabischen Brüdern Heydan und Marwan und beginnt – im Gegensatz zu seinem Bruder Nima – eine kriminelle Karriere, die ihn später hinter Gitter und in noch größere Schwierigkeiten bringt. Es ist für ihn ein archaischer Überlebenskampf in einer harten Männergesellschaft fern der bürgerlichen Mehrheitsgesellschaft. Saam lernt, sich anzupassen, um nicht unterzugehen. Aber das führt nicht automatisch zu einem Happy End. Es ist eine Welt der der Kämpfenden und Sehnsüchtigen, der Verlorenen und Verlierer, der verzweifelt Liebenden und der Hoffenden. Und die beschreibt Behzad Karim Khani mit einer faszinierenden Mischung aus Straßenslang und erhabener Kunstsprache. Das Ergebnis ist ein drastischer, energiegeladener, poetischer Blick auf eine komplexe Brüderbeziehung und in eine sehr nahe und doch sehr ferne Welt.
In deinem rechten Auge wohnt der Teufel
Die Künstlerin und Autorin Olga Hohmann las in Berlin aus ihrem bemerkenswerten Roman „In Deinem rechten Auge wohnt der Teufel“,…
Die Künstlerin und Autorin Olga Hohmann las in Berlin aus ihrem bemerkenswerten Roman „In Deinem rechten Auge wohnt der Teufel“, der in Kürze bei unseren Freunden vom Korbinian Verlag erscheinen wird. Es geht in diesem durchaus experimentell zu nennenden Text – unter anderem – um die mystische Welt der Oper, um ein junges Mädchen, das oft grundlos, wie es scheint, wütend wird und langsam lernt, seine explodierende, alle irritierende Wut zu unterdrücken. Sie ist fasziniert von der kochenden Wut der Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte, die da singt: »Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen«. Es geht auch um Florence Foster Jenkins, die als schlechteste Königin der Nacht der Welt der Musikgeschichte gilt und die Anfang des 20. Jahrhunderts in New York Opernarien begeistert, aber niederschmetternd falsch singend zum Besten gab. Und es geht um kollektive Erinnerungen an Ereignisse wie 9/11, den Zusammenbruch des Berliner Aqua Doms, Rave-Nächte der 90er und viele flaneurhafte Eindrücke aus Stadt. Der Text ist aufgebaut wie eine Oper, es gibt mehrere Aufzüge, Sing-Songteile wechseln sich ab mit Textpassagen, Taylor Swift wird genauso lässig zitiert wie Georg Friedrich Händel, kurzum: Wer hier eine lineare Erzählung erwartet, wird radikal und angenehmst enttäuscht werden. Der Text ist die Performance. Chapeau!
Iowa
Die Wiener Autorin und Zeichnerin Stefanie Sargnagel wurde durch kurze Netzeinträge bekannt, Statusmeldungen von Facebook und anderswo veröffentlichte sie in…
Die Wiener Autorin und Zeichnerin Stefanie Sargnagel wurde durch kurze Netzeinträge bekannt, Statusmeldungen von Facebook und anderswo veröffentlichte sie in Büchern wie Binge Living, Fitness oder eben „Statusmeldungen“. Mit „Iowa“ hat sie nach „Dicht“ – ein urkomischer und zugleich melancholischer Bericht der Erzählerin über ihre versoffene und trübsinnige Schulzeit – ihren zweiten Roman veröffentlicht. Sie, die keinen Schulabschluss hat, wird in den ländlichsten aller US-Bundesstaaten, Iowa, eingeladen, um dort als Gastdozentin an einem College den Studierenden im Fach Creative Writing Lektionen über „Humor“ zu erteilen. Mit der von ihr verehrten Gründerin und Sängerin der Band Lassie Singers, Christian Rösinger, reist sie also in das Zentrum der amerikanischen Mastschweinezucht und erforscht mit ihr das große amerikanische Nichts, das so exotische wie ereignisarme Provinz- und Landleben. Aber auch hier kommen natürlich immer wieder ihre Herzensthemen Körper und Geschlechterverhältnis zur Sprache (sie ist Feministin UND hetero, ein Dilemma, wie sie findet, eigentlich eine einzige Demütigung), wobei ihr schmerzlich bewusst ist, dass Erfolg bei Frauen „keine Blutzufuhr in den Penissen bewirkt“, denn erfolgreiche Frauen, so die Erfahrung, verschrecken Männer. Sargnagel und Rösinger fahren umher, treffen nette, spannende, skurrile und seltsame Menschen, sehnen sich nach besserem Essen und ein bisschen Aufregung – und schildern das so komisch, so lustig, so trocken, dass man gerne dabei gewesen wäre.
Irre Wolken
Der 19jährige "Kuli" arbeitet 1 Jahr freiwillig in der Psychiatrie und verliebt sich dort in die Patientin Anne Schmidt, auf die er eigentlich aufpassen sollte.
Der für seine Songlyrik hochgelobte Sänger und Songwriter der Band „Erdmöbel“, Markus Berges, hat mit „Irre Wolken“ seinen dritten bemerkenswerten Roman vorgelegt. Es geht um den „Kuli“ genannten 19jährigen, der Mitte der 80er ein Jahr in der Psychiatrie absolviert, in einer Anstalt, die „draußen“ nur „die Hülle“ heißt. Dort begegnet er der Patientin Anne Schmidt, die von ihrer Familie wegen ihrer psychotischen Schübe eingeliefert wird. Sie wittert überall den “totalen Atomstaat“ und die „Atom-Mafia“ (wobei das im Tschernobyl-Jahr 1986 in der Protestbewegung eher eine Mainstream-Meinung war). „Kuli“ ist fasziniert von klugen, aufregenden Anne, die aber auch andere Seiten hat und schon bald in der Anstalt ein Zimmer zerlegt und droht, jemand mit einem Wasserhahn den Schädel einzuschlagen. Bei einem Spaziergang läuft sie weg – und er lässt sie laufen. Es entwickelt sich eine heimliche, verbotene Affäre, für ihn eine große Liebe, in einem geheimen Liebeslager an der Ems im Münsterland, wo sie zelten, baden, sich lieben. In Ihrem Versteck sind sie sich einerseits ganz nah, andererseits auch ganz fremd, denn, wie er immer wieder bemerkt, sie bleibt ja immer auch Patientin. Manchmal scheint sich das Verhältnis für ihn umzukehren: Er, der leicht übergewichtige Junge, fühlt sich durch diese Frau wie befreit von der Enge der Familie, des Ortes, der Umstände. Plötzlich aber ist sie weg aus dem Versteck und taucht später erneut als Patientin in der „Hülle“ auf. Die großen Gefühle lassen für ihn alles, selbst den GAU in der fernen Ukraine und die „Irre Wolken“ (die Radioaktivität bin nach Deutschland tragen), in den Hintergrund treten. Aber nichts ist wie vorher. Markus Berges ist ein wunderbar zartes, einfühlsames, lebenskluges und lustiges Buch über eine erste große Liebe unter ganz besonderen Umständen gelungen. Wunderbar.
Kachelbads Erbe
Nach seinem beeindruckendenen Debüt („Über uns der Schaum“) hat der Schriftsteller, Künstler und Musiker („Messer“) Hendrik Otremba mit seinem neuen…
Nach seinem beeindruckendenen Debüt („Über uns der Schaum“) hat der Schriftsteller, Künstler und Musiker („Messer“) Hendrik Otremba mit seinem neuen Roman „Kachelbads Erbe“ die hohen Erwartungen mehr als erfüllt: Mit großer Stilsicherheit entwirft er in einer ganz eigenen Sprache die Geschichte um einen deutschen Forscher in den USA, der frisch Gestorbene tiefkühlen lässt, damit sie dereinst wieder aufgeweckt werden können. Das Unscharfe, Nebulöse, Geheimnisvolle dieses Romans entwickelt, beschleunigt durch die laufend wechselnden Erzählperspektiven, einen ganz eigenen Sog, wie alle Zuhörer beim Writers‘ Thursday feststellen konnten.
Kampfsterne
Was für ein Roman, was für eine Autorin: In „Kampfsterne“ führt uns Alexa Hennig von Lange in eine scheinbar idyllische…
Was für ein Roman, was für eine Autorin: In „Kampfsterne“ führt uns Alexa Hennig von Lange in eine scheinbar idyllische Bungalowsiedlung, in der es auf den ersten Blick allen recht gut zu gehen scheint. Aber eigentlich sind alle zerfressen von Neid, unterdrückten Begierden, Ignoranz und leiden unter ihrer Kommunikationsunfähigkeit. Das klingt deprimierend, aber das wird so leicht und auch lustig erzählt, dass man nur staunen kann. Wie die Geschehnisse aus verschiedenen Perspektiven erzählt werden, ist mitreißend und genial gemacht. Insbesondere die Perspektive der Jugendlichen gelingt Alexa so überzeugend und liebevoll, dass man mit Johannes und Cotsch sofort mal einen Nachmittag verbringen wollen würde.
Keine gute Geschichte
Was für ein hammerhartes Debüt: Die in Leipzig geborene und heute in Köln lebende Lisa Roy führt uns mit ihrem…
Was für ein hammerhartes Debüt: Die in Leipzig geborene und heute in Köln lebende Lisa Roy führt uns mit ihrem Roman „Keine gute Geschichte“ in die tiefsten Tiefen und grauesten Ecken des Ruhrpotts – und der menschlichen Verwicklungen und Verstörungen. Vergesst Schimi-Romantik und Zechen-Nostalgie, here comes the reality. Die Mittdreißigerin Arielle Freytag wuchs einst im prekären Stadtteil Essen Katernberg auf. Seit 12 Jahren war sie nicht da, jetzt will sie der Oma zeitweise helfen. Mittlerweile ist sie Social Media Managerin in Düsseldorf, das von Katernberg aus wie ein unerreichbarer Planet wirkt. Ihr Vater ist unbekannt, von ihm hat sie schwarze lockige Haare und eine Hautfarbe, die manche auf eine türkische oder kroatische Herkunft schließen lassen – als sie vorübergehend als Escort arbeitete, hat sie gerne damit gespielt. Die Mutter verschwand früh, diese Wunde schmerzt immer noch – ging die geliebte Mutter freiwillig oder unter Zwang? Warum meldete sie sich nie mehr? Ist sie vielleicht tot? In Katernberg sind zwei jüngere Mädchen verschwunden, das wirft Arielle, die wegen Depressionen länger in „der Klapse“ war, wie sie selbst sagt, mit Wucht zurück auf die ungelösten Fragen zur verschwundenen Mutter. Hindert sie aber nicht daran, mit dem Vater der einen Verschwundenen gleich ein Verhältnis anzufangen. Und was für Geheimnisse verbirgt die verbitterte, verschrobene Oma, die sie einst alleine aufziehen musste und ihr das heute recht deutlich vorwirft? Die Wahrheit kommt nur sehr langsam heraus. Du kannst das Mädchen aus dem Ghetto kriegen, aber nicht das Ghetto aus dem Mädchen, sagt ihr eine alte Bekannte aus ihrem früheren Wohnblock, die sie noch unter dem Spitznamen „die Matratze“ kennt. Und Arielle spürt, wie wahr das ist: Aufstieg hin, Aufstieg her, aus dieser Klasse gibt es vielleicht kein Entkommen. Kurzum: Ein kompromissloser, schnörkelloser, fesselnder, großer Wurf!
Klarkommen
Die Erzählerin und zwei Freunde ziehen von einem namenlosen Dorf in eine namenlose Großstadt, aber das Leben unterläuft permanent die eigenen Erwartungen. Das tolle Leben, das haben immer die anderen.
Wo eigentlich versteckt sich das wilde, ungestüme, aufregende Leben? Darum geht es in „Klarkommen“, dem zweiten Roman von Ilona Hartmann. Mounia, Leon und die Erzählerin leben in einem namenlosen Dorf und sehnen sich nach nichts mehr als der namenlosen Großstadt, in der sie all das zu finden hoffen, was sie gerade nicht haben: Aufregung, Abenteuer, Grenzüberschreitungen, you name it. Vor der Haustür ist dagegen eher öde und ereignisarm, was auch nicht besser wird, als ihre Altersgenossen wenigstens den Alkohol entdecken, mit dem diese sich wegbeamen können – und das offensichtlich irgendwie gut finden. Mounia und die Erzählerin vertragen aber leider keinen Alkohol, also bleiben ihnen nur die Energydrinks. Als es dann endlich in die Großstadt geht, stellen sie ernüchtert fest, dass ihr Leben auch hier alle Erwartungen unterläuft. Von wegen Verheißung: Sie sind immer zu spät am falschen Ort, die WG, in der man wohnt, ist auch eher schlaff und öde, energielos und latent depressiv. Das Leben bietet also immer weit weniger als erhofft, alles ist spektakulär unspektakulär. Selbst die schlimmen Ereignisse sind nicht mal eine Anekdote wert, es ist zum Verzweifeln. Keine geile Zeit, keine geilen Geschichten – die passieren wieder nur den anderen. Die an sich normal-öde Normalität beschreibt Ilona Hartmann so lakonisch, teilweise poetisch, aber immer schnörkellos in kurzen und längeren Passagen und Aphorismen, dass es eine wahre Freude ist. So viel mitreißende Realität war selten, das ist das Befreiungsbuch für alle, die die Nase voll haben von den immergleichen Junger-Mensch-aus-der-Provinz zieht nach – meistens – Berlin und findet sich dort gerne nackt und völlig bedröhnt im Berghain oder KitKat irgendwie selbst. Jajaja. Kurzum: Danke Ilona, eine musste es ja mal sagen. Und damit müssen jetzt alle „Klarkommen“.