Buchtipps

Buchempfehlungen von Rainer Schmidt (in alphabetischer Reihenfolge der Buchtitel)

Dschungel

von Friedemann Karig, Ullstein

Wer vom ersten Kapitel nicht sofort reingezogen wird, hat es nicht gelesen: Friedemann Karigs Roman „Dschungel“: „The Beach“ meets „Auerhaus“.

Wer vom ersten Kapitel nicht sofort reingezogen wird, hat es nicht gelesen: Friedemann Karigs Roman „Dschungel“: „The Beach“ meets „Auerhaus“.

Düsternbrook

von Axel Milberg, Piper

Als Kieler „Hauptkommissar Klaus Borowski“ (Tatort) kennt ihn jeder, als Autor hat Schauspieler Axel Milberg den schönen, autobiografisch gefärbten Roman…

Als Kieler „Hauptkommissar Klaus Borowski“ (Tatort) kennt ihn jeder, als Autor hat Schauspieler Axel Milberg den schönen, autobiografisch gefärbten Roman „Düsternbrook“ geschrieben, benannt nach dem gleichnamigen Viertel in Kiel.

Ein Sohn von zwei Müttern

von Franz Dobler , Klett & Cotta

Der bayerische Bub erfährt früh, dass er neben seiner "Mama" noch eine leibliche Mutter hat. Aber es dauert Jahrzehnte, bis er es genauer wissen will.

In „Ein Sohn von zwei Müttern“ erzählt Franz Dobler – preisgekrönter Schriftsteller, Krimiautor und Musikexperte – die faszinierende, autobiografisch geprägte Geschichte eines Jungen, der in den 60er/70er Jahren in Bayern aufwächst und dem die Nachbarskinder erzählen, er sei ein Adoptivkind. Das beschäftigt das Kind nicht groß, für ihn bleiben seine „Mama“ und der „Papa“ seine ihn liebenden Eltern – das wird sich nie ändern. Auch sprachlich nicht: Die „Mama“ ist die Adoptivmutter, die leibliche „Mutter“ wird „Mutter“ genannt. Erst viel später will er Genaueres wissen. Die „Mutter“ wohnt mittlerweile in New York mit neuer Familie und Kindern, die nichts von ihm ahnen. Er erfährt, dass sein leiblicher Vater ein persischer Austauschstudent ist, ein One-Night-Stand, zu dem es keinen Kontakt gibt, was ihn nicht stört. Im Buch sitzt der Adoptivsohn als älterer Mann mit Frau und erwachsener Tochter im Flugzeug nach New York, um – nach dem Tod der Adoptivmutter – seine leibliche Mutter zu treffen. Während des Fluges tauscht er sich immer mit seiner Frau über seine Geschichte aus. Auf einer zweiten Erzählebene wird geschildert, wie er sich seiner Geschichte im Laufe der Jahrzehnte nähert. Wie er einmal Angst bekommt, ein Serienkiller zu werden, weil viele solcher Täter Adoptivkinder waren. Wie er eine Selbsthilfegruppe für Adoptivkinder sofort wieder verlässt, weil er sich fern der Probleme fühlt, die andere dort schildern. Er fühlt sich nicht traumatisiert oder schlechter behandelt, hadert nicht mit seiner Geschichte. Und fragt sich doch immer selbstkritisch, was echte Erinnerung ist und was vielleicht nur Verdrängung. Das hochspannende, unpathetische Buch stellt allen wie nebenbei ganz grundsätzliche Fragen: Was ist Herkunft, was Identität, welche Rolle spielen Eltern und Blutsverwandtschaft, welche Liebe und Fürsorge – und wie geht man damit um, wenn die eigene Biografie keine konventionelle ist? Das packt jeden!

Ein Sommer in Niendorf

von Stephan Benson, Heinz Strunk, Rowohlt

Obwohl Heinz Strunk bedauerlicherweise wenige Stunden vor dem Writers´ Thursday krankheitsbedingt leider absagen musste, wollte wir unbedingt seinen für den…

Obwohl Heinz Strunk bedauerlicherweise wenige Stunden vor dem Writers´ Thursday krankheitsbedingt leider absagen musste, wollte wir unbedingt seinen für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman – Ein Sommer in Niendorf – im Programm lassen und konnten glücklicherweise extremst kurzfristig den großartigen Hamburger Schauspieler und Bühnenautor Stephan Benson (Foto) mit seiner eindringlichen Stimme als Vorleser gewinnen. Es geht um den Juristen Roth, der sich drei Monate an die Ostsee zurückzieht, um dort ein Buch zu schreiben, in dem er mit seiner Familiengeschichte abrechnen will. Gleich zu Beginn seines Aufenthaltes lernt er den örtlichen Spirituosenhändler kennen, der einerseits in seinem freiwilligen Exil eine wichtige Bezugsgröße wird, der ihn andererseits durch seine Art auch abstößt. Wie zwei Ertrinkende, so hat man den Eindruck, klammern sich die beiden in einem Abwärtsstrudel aneinander, der von immer heftigeren Alkohol-Exzessen gekennzeichnet ist. Der Text schon niemanden. Es geht um grandiose Abstürze, trostlosen Sex, um einen mentalen und körperlichen Zerfall und die Lebenslügen der bürgerlichen Welt – und das ist in all seiner grausamen Präzision auch immer wieder sehr lustig. Und wenn man schon keine Hoffnung mehr hat, erscheint am Ende doch ein Ausweg.

Ende in Sicht

von Ronja von Rönne, dtv

Ein stellenweise urkomischer, lustiger, immer anrührender und bewegender Roman über zwei sehr ungleiche Depressive ist Ronja von Rönne mit „Ende…

Ein stellenweise urkomischer, lustiger, immer anrührender und bewegender Roman über zwei sehr ungleiche Depressive ist Ronja von Rönne mit „Ende in Sicht“ gelungen. Irgendwo wurde über das Buch gesagt: „Lustig, auch wenn es eigentlich nicht zu lachen gibt“ – das trifft es auf den Punkt. Die Story: Es geht um den früheren Schlagerstar Hella Licht, die mit knapp 70 depressiv, versoffen und lebensmüde ist und die sich durch die kleine Lüge, dass sie „unheilbar krank“ sei, die Berechtigung erschlichen hat, in der Schweiz mit einer Organisation für Sterbehilfe aus dem Leben scheiden zu dürfen. Und es geht um Juli, die ist 15, depressiv und so fertig mit der Welt, dass sie sich von einer Autobahnbrücke in den Tod stürzen will. Das geht unbeabsichtigt schief, sie landet nur leicht verletzt vor dem Wagen der Hella Licht, die auf dem Weg in die Schweiz zur Sterbehilfe ist. Und schon beginnt eine tragisch-komische Fahrt durch zerklüftete Gefühls- und Seelen- und Lügenlandschaften, in der Ronja von Rönne grandios beschreibt, wie die beiden sich gegenseitig belügen und entlarven, bejammern und beschimpfen, denn keine will ihre wahren Ziele und Bewegründe offenbaren. Die Journalistin (Zeit, Zeit-Online), Moderatorin („Streetphilosophy“ auf arte) und Buchautorin Ronja von Rönne („Wir kommen“, „Heute ist leider schlecht“) hatte schon öfter sehr offen über die Depressionen gesprochen, mit denen sie selbst zu kämpfen hat. Vielleicht auch deswegen ist wohl noch nie so ergreifend und zugleich komisch und leicht über Depressionen geschrieben worden. Und darüber, wie zwei Verlorene ins Leben zurückfinden.

Face it

von Heike Makatsch, Debbie Harry, Heyne Hardcore

Die beste Stimme für ein tolles Buch: Heike Makatsch hat beim Writers‘ Thursday ( Presented by BMG and YouTube) in…

Die beste Stimme für ein tolles Buch: Heike Makatsch hat beim Writers‘ Thursday ( Presented by BMG and YouTube) in Berlin im 1. OG über dem Borchardt aus der Autobiografie von Blondie alias Debbie Harry („Face it!“) gelesen. In den Passagen ging es um das raue Künstlerleben im New York der 70er Jahre und wie sie sich zugleich zur Stilikone und zum feministischen Vorbild in einer männlich dominieren Musikszene entwickelte. Und das trug Heike Makatsch so perfekt vor, dass wohl alle Zuhörer sich gewünscht hätten, sie möge das ganze Buch doch bitte in einem Rutsch vortragen.

Fast ein neues Leben

von Anna Prizkau, Matthes & Seitz

Anna Prizkau liest die beim Writers‘ Thursday aus ihrem Buch „Fast ein neues Leben“, in dem sie zwölf wunderbare, zarte,…

Anna Prizkau liest die beim Writers‘ Thursday aus ihrem Buch „Fast ein neues Leben“, in dem sie zwölf wunderbare, zarte, melancholische, traurige, überraschende und immer wieder ergreifende Erzählungen über die Schwierigkeiten geschrieben hat, in einem neuen Land anzukommen und eine neue Heimat zu finden. Vor allen Dingen, wenn diejenigen, die schon da sind, einen vielleicht gar nicht wollen oder nur unter Vorbehalt dazugehören lassen wollen. Oder man das zumindest immer erst einmal vermutet und dann plötzlich merkt, wie man aus Furcht, als die Fremde gesehen zu werden, sich selbst und seine Liebsten verleugnet. Und dafür dann sehr schämt. Und sie entwickelt eine starke Sensibilität für jene, die vielleicht ganz ähnliche Perspektiven haben.

Fast hell

von Alexander Osang, Aufbau

Alexander Osang las beim „Writers´ Thursday Village“ in Flakes Garage aus seinem aktuellen Roman „Fast hell“. Darin beschreibt er die…

Alexander Osang las beim „Writers´ Thursday Village“ in Flakes Garage aus seinem aktuellen Roman „Fast hell“. Darin beschreibt er die viertägige Reise mit dem ostdeutschen Uwe, der in New York lebt, und dessen 80jähriger Mutter nach St. Petersburg. Der Erzähler begleitet Uwe, um für ein Sonderheft des „Spiegel“ über „Die Ostdeutschen“ eine Reportage zu schreiben. Aber er will keine Klischees, nicht die Erwartungen der Kollegen bezüglich „der Ostdeutschen“ erfüllen. Uwe scheint der richtige Kandidat, er hat eine irre Biografie mit den unwahrscheinlichsten, abenteuerlichsten Erlebnissen, die vom Schmuggel von Motorräder und Kühlschränken mit der chinesischen Armee bis hin zu unglaublichen internationalen Verwicklungen und Begegnungen führt. Je mehr der Erzähler hört, desto mehr denkt er über seine eigene ostdeutsche Biografie nach. Am Ende wird es ein Doppelporträt von Uwe und dem Erzähler. Die Reportage wird nie gedruckt, zu unwahrscheinlich scheint die Vergangenheit. Das lustige und mitreißende Buch stellt die Frage: Wie schreiben wir alle Geschichte, damit sie in unser Weltbild passt? Wie erinnern wir uns? Und woran? Und wie genau kennen wir eigentlich die anderen – und uns selbst.

Gebratene Störche

von Toni Mahoni, Galiani

Für viele die Entdeckung des Abends: Autor, Musiker, Geschichtenerzähler und Video-Blogger Toni Mahoni, den man auch schon den „Tom Waits…

Für viele die Entdeckung des Abends: Autor, Musiker, Geschichtenerzähler und Video-Blogger Toni Mahoni, den man auch schon den „Tom Waits von Köpenick“ genannt hat, völlig zu recht übrigens, las beim Writers´ Thursday Village in Flakes Garage aus seinem Buch „Gebratene Störche“, das vor einiger Zeit herauskam und allen nur dringend zur Lektüre empfohlen werden kann: In 17 Kapiteln wird da der irre lustige Alltagskosmos des Erzählers, des Musikers Toni Mahoni, ausgebreitet, der ganz am Anfang die tolle Peggy Maschke kennenlernt, als diese im Bademantel durch die Delikatessenabteilung des KaDeWe streift und absichtsvoll Delikatessen besabbert – eine beeindruckende antikapitalisitsche Aktion, wie Mahoni messerscharf folgert. Seine ganze Welt ist voll mit liebenswerten, skurrilen und immer sehr bodenständigen Menschen, die wir Kapitel für Kapitel kennenlernen, in schönstem Berlinerisch. Als Mahoni, der sich auf der Bühne als grandiose Rampensau und Vorleser entpuppte, die Story vorlas, in der der Erzähler, ein begeisterter Fleischesser im krassen Gegensatz zu seiner Freundin, für einen Grillabend ein süßes Ferkel eigenhändig schlachten soll, bebte Flakes Garage vor Gelächter. Ein Knaller.

Geordnete Verhältnisse

von Lana Lux, Hanser Berlin

Als sie schwanger und verschuldet vor Philipps Tür steht, scheint er die Rettung zu sein. Aber zu spät merkt sie, dass er ihr Verhängnis sein wird.

Nach „Kukolka“ und „Jägerin und Sammlerin“ erzählt Lana Lux in ihrem neuen Roman „Geordnete Verhältnisse“ die Geschichte einer Freundschaft, einer Beziehung, die zur Obsession wird und in der es keine Liebe gibt, die beide darin anfangs vielleicht einmal hofften zu finden. Im Mittelpunkt stehen der Außenseiter Philipp, der zu unkontrollierten Wutausbrüchen neigt und sich in der Schule nichts sehnlicher als einen echten Freund wünscht. Und um Faina, das Russisch sprechende jüdische Mädchen, das mit ihren Eltern aus der Ukraine nach Deutschland gekommen ist und die auch einen Vertrauten in der neuen, fremden Umgebung sucht. Philipp nimmt sich ihrer an, verbessert ihr Deutsch und hilft ihr, sich zurechtzufinden. Für beide scheint es eine win-win Situation zu sein, die sie nach der Schule fortsetzen, sogar intensivieren, bis Faina die Kontrollwut Philipps zunehmend stört. Er will sich absondern, lehnt Körperlichkeit ab, sie will das pralle Leben leben. Sie trennen sich für Jahre. Er macht Karriere, hat Geld und Wohnung, spürt aber immer noch ein Loch, wo einst Faina war. Als sie verlassen, schwanger und verschuldet vor seiner Tür steht, nimmer er sie auf. Und was wie eine Rettung aussieht, wird zum verstörenden Abhängigkeitsverhältnis, zum brutalen, toxischen Psychoknast für Faina, aus dem sie bald fliehen will. Doch das will der zu Gewalt neigende Philipp nicht akzeptieren. Lana Lux erzählt die Geschichte aus zwei Perspektiven, wir sehen alles durch Fainas Augen und dann wieder durch seine. Das erzeugt eine fesselnde Spannung, die durch eine unsentimentale Sprache noch betont wird. Das Ergebnis ist das beklemmende, ergreifende und aufwühlende Protokoll einer Katastrophe.

Glitterschnitter

von Sven Regener, Galiani

Der Großmeister des kommunikativen Alltagsirrsinns, Sven Regener, hat beim Writers Thursday aus seinem neuen Roman „Glitterschnitter“ gelesen, der uns weiter…

Der Großmeister des kommunikativen Alltagsirrsinns, Sven Regener, hat beim Writers Thursday aus seinem neuen Roman „Glitterschnitter“ gelesen, der uns weiter in die Welt des Herrn Lehmann Anfang der 80er Jahre eintauchen lässt. „Herr Lehmann“ erschien übrigens vor genau 20 Jahren, die Ursprungsgeschichte des Bremers Frank Lehmann spielte 1989, danach folgten Romane, in der die Vorgeschichte erklärt und Nebenfiguren besser ausgeleuchtet wurden („Neue Vahr Süd“, „Der kleine Bruder“, „Magical Mistery“, „Wiener Straße“). In „Glitterschnitter“ geht es nicht einfach nur um die Band gleichen Namens, die um einen Auftritt kämpft, oder um die Berufsösterreicher der ArschArt Galerie oder den Einzug des Milchkaffees in die Szenekneipen, es geht, wie immer, um alles: um die Bedeutung und Kraft der Kunst, um echte Freundschaft und natürlich um das Leben im Großen und Ganzen. Und wen diese Figuren nicht anrühren, wer bei diesem Buch nicht alle paar Seiten schallend lacht, tja, dem oder der ist auch nicht mehr zu helfen

Glück

von Jackie Thomae, Claassen

Schriftstellerin Jackie Thomae hat beim Writers´ Thursday zuletzt aus ihrem hochgelobten Roman „Brüder“ gelesen, in dem es die Halbgeschwister Mick…

Schriftstellerin Jackie Thomae hat beim Writers´ Thursday zuletzt aus ihrem hochgelobten Roman „Brüder“ gelesen, in dem es die Halbgeschwister Mick und Gabriel ging. In ihrem neuen Roman „Glück“ stehen zwei Frauen im Mittelpunkt, stellvertretend für so viele andere. Da ist die coole und bekannte Radio-Moderatorin Marie-Claire, genannt MC, die mit einer eigenen Show, Yoga-Kursen und Designerwohnung das Leben einer polyglotten Städterin lebt. Und da ist die erfolgreiche Anahita, die es als Kind von Einwanderern mit einer Bilderbuchkarriere bis zur Senatorin in der deutschen Metropole geschafft hat. Beide sind Ende 30, beide haben keine Kinder, beide merken, dass ihnen dafür langsam die Zeit davonläuft. Ihre Wege kreuzen sich nur einmal kurz bei einem Interview, wo MC unwillkürlich auch die Kinderfrage an die erfolgreiche Politikerin herausrutscht. Die große Frage, um die es geht: Braucht man Kinder, um glücklich zu werden? Wie geht man mit dem Druck um, dem biologischen, den Männer nicht haben, und dem sozialen von außen? Plötzlich kommt ein neues Medikament auf den Markt, Ambeth, mit dem Frauen der Kinderwunsch auch weit nach dem 40. Geburtstag fast problemlos ermöglicht werden kann. Ihr biologischer Möglichkeitenraum ist auf einmal so groß wie jener der Männer. Schon stellen sich neue Fragen: Will man das Medikament mit seinen Nebenwirkungen nehmen? Wie dringend ist der Wunsch wirklich? Geht es nicht auch um andere Ziele und Erfüllung durch andere Sachen in Beruf und Privatleben? Eine der beiden entscheidet sich schließlich für das Medikament. Führt das für sie zum „Glück“? Ein ernstes Thema, so lässig und mitreißend erzählt, wie es nur Jackie kann.

Haarmann

von Dirk Kurbjuweit, Penguin

Dirk Kurbjuweit las aus seinem neuen Roman „Haarmann“, einer fiktionalisierten Geschichte des Serienmörders Fritz Haarmann, der in den 20er Jahren…

Dirk Kurbjuweit las aus seinem neuen Roman „Haarmann“, einer fiktionalisierten Geschichte des Serienmörders Fritz Haarmann, der in den 20er Jahren in Hannover (mindestens) zwei Dutzend junge Männer umbrachte und dafür zum Tode verurteilt wurde. Kurbjuweit erzählt aber nicht einfach nur einen hochspannenden Kriminalfall, sondern porträtiert zugleich eine zerrissene Gesellschaft, in der es die Anhänger der jungen Demokratie schwer haben, sich gegen die Vorstellungen ihrer Gegner – auch und gerade in Fragen der Sicherheit- zu behaupten. Wie stark darf und muss ein demokratisch verfasster Staat sein, um seinen Bürgern das Gefühl von Sicherheit zu geben? Wie weit darf er gehen? Das sind die Fragen, mit denen sich der ermittelnde Kommissar ständig auseinandersetzen muss. Der Fall mag alt sein, die Fragen, die er aufwirft, wirken in Kurbjuweits Buch erschreckend aktuell.

Harro & Libertas

von Norman Ohler, Kiepenheuer & Witsch

Nach seinem Weltbestseller „Der totale Rausch“ (keine Übertreibung: u. a. New York Times und Los Angeles Times Bestsellerliste!) über den…

Nach seinem Weltbestseller „Der totale Rausch“ (keine Übertreibung: u. a. New York Times und Los Angeles Times Bestsellerliste!) über den bewussten Einsatz von Drogen im Dritten Reich für die Soldaten und Hitler selbst, hat Norman Ohler (der Schriftsteller, Drehbuchautor, Filmemacher) wieder eine extrem aufwändige Recherche betrieben und ein erzählendes Sachbuch über die Widerstandsgruppe geschrieben, die unter der von den Nazis gewählten Bezeichnung „Rote Kapelle“ bekannt wurde. Es geht um die Hauptfiguren Harro und Libertas Schulze Boysen, die in den 30ern zur Berliner Boheme gehörten und zu einer Gruppe Idealisten, die trotz Diktatur und extremer Unterdrückung ein Leben mit freier Liebe, Literatur und Partys leben wollten. Während des Krieges versuchten sie, geheime Infos an die Alliierten, an die Russen UND die Engländer, zu vermitteln, um Hitlers Krieg zu stören. Mit Flugblättern, Briefen und Fotos klärten sie unter Einsatz ihres Lebens die Öffentlichkeit über die Gräueltaten der Nazis auf. Viele von ihnen endeten am Strang oder auf der Guillotine. In der DDR galten sie als Helden, im Westen ignorierte man sie lieber (weil sie Infos an die Russen gegeben hatten), hier machten unfassbarerweise eher ihre einstigen Verfolger und Peiniger teilweise noch Karrieren in westlichen Behörden. Normans Buch liest sich wie ein packender Roman, ist aber die wahre Geschichte von „Harro & Libertas“.

Hasstagebuch

von Stefanie Sargnagel, rororo

Ein Leben in Wien: Die Künstlerin als Schülerin und junge Frau in verlotterten Zusammenhängen.

Ein absoluter Höhepunkt des Abends war die Lesung der Wiener Autorin und Zeichnerin Stefanie Sargnagel. Zuletzt hatte die Österreicherin das Buch „Dicht“ veröffentlicht, die „Aufzeichnungen einer Tagediebin“, ein einfühlsamer, trauriger, und dabei urkomischer Bericht über ihre verlotterten und versoffenen Schultage in Wien. Beim Writers´ Thursday widmete sie sich aber anderen Herzensthemen, dem komplexen Geschlechterverhältnis, der Liebe, dem Sex, der körperlichen Gier und der dabei oft auch spürbaren Ratlosigkeit und Lächerlichkeit. Sie las diverse Kurztexte und Teile einer von ihr verfassten Rede zum Thema, so schlau und lustig, wie das nur Stefanie Sargnagel kann. Nahezu unbemerkt und nahtlos gehen bei ihr mündlicher Vortrag und gelesene Texte im schönsten Wienerisch ineinander über – es wurde laut und viel gelacht. Herrlich!

Hast du uns endlich gefunden

von Edgar Selge, Rowohlt

Edgar Selge, seit vielen Jahren einer der profiliertesten und eindeutig besten Schauspieler Deutschlands, hat mit „Hast Du uns endlich gefunden“…

Edgar Selge, seit vielen Jahren einer der profiliertesten und eindeutig besten Schauspieler Deutschlands, hat mit „Hast Du uns endlich gefunden“ ein ergreifendes, fulminantes Debüt hingelegt. Wer ihn bisher nur als Kommissar Tauber aus Polizeiruf 110 kannte oder als unzählige Male preisgekrönten Theater- und Filmmenschen, wird ihn hier als begnadeten Literaten entdecken. Aus der Perspektive eines 12jährigen Edgar mit leicht kleinkriminellen Neigungen wird eine Jugend in Westfalen in den 50er/60er Jahren geschildert. Der Vater ist Gefängnisdirektor und klavierspielender Klassikliebhaber, der Haushalt zutiefst bürgerlich, aber schon bald zeigen sich überall Risse in der scheinbar glatten Oberfläche. Die Eltern haben die Kriegs-Niederlage des geliebten Vaterlandes noch nicht überwunden, das Gift des Antisemitismus schwappt weiter in ihnen, der Vater prügelt den Sohn bei jeder Gelegenheit gnadenlos, als ob er die Welt mit Ohrfeigen ordnen wolle, wie es an einer Stelle heißt, und ist auch sonst unangenehm körperlich übergriffig. Nur die Kunst, die klassische Musik scheint die Familie überhaupt noch zusammenzuhalten, manchmal. Edgar Selge zeichnet mit zurückhaltender Sprache und prägnanten Beschreibungen ein erschütterndes Bild eines Nachkriegsdeutschlands, in dem der Schatten der Nazi-Herrschaft noch über allem liegt und in der Stadt bekannte Kriegsverbrecher mit lächerlichen Strafen davonkommen. Und in der die Kinder trotz dieser Enge mental zu überleben versuchen – und auch weiter ihre Eltern lieben wollen. Trotz dieser düsteren Kulisse ist das Buch auch immer wieder komisch und lustig. Wir freuen uns schon auf das zweite Buch.