Buchtipps

Buchempfehlungen von Rainer Schmidt (in alphabetischer Reihenfolge der Buchtitel)

Iowa

von Stefanie Sargnagel, Rowohlt

Die Wiener Autorin und Zeichnerin Stefanie Sargnagel wurde durch kurze Netzeinträge bekannt, Statusmeldungen von Facebook und anderswo veröffentlichte sie in…

Die Wiener Autorin und Zeichnerin Stefanie Sargnagel wurde durch kurze Netzeinträge bekannt, Statusmeldungen von Facebook und anderswo veröffentlichte sie in Büchern wie Binge Living, Fitness oder eben „Statusmeldungen“. Mit „Iowa“ hat sie nach „Dicht“ – ein urkomischer und zugleich melancholischer Bericht der Erzählerin über ihre versoffene und trübsinnige Schulzeit – ihren zweiten Roman veröffentlicht. Sie, die keinen Schulabschluss hat, wird in den ländlichsten aller US-Bundesstaaten, Iowa, eingeladen, um dort als Gastdozentin an einem College den Studierenden im Fach Creative Writing Lektionen über „Humor“ zu erteilen. Mit der von ihr verehrten Gründerin und Sängerin der Band Lassie Singers, Christian Rösinger, reist sie also in das Zentrum der amerikanischen Mastschweinezucht und erforscht mit ihr das große amerikanische Nichts, das so exotische wie ereignisarme Provinz- und Landleben. Aber auch hier kommen natürlich immer wieder ihre Herzensthemen Körper und Geschlechterverhältnis zur Sprache (sie ist Feministin UND hetero, ein Dilemma, wie sie findet, eigentlich eine einzige Demütigung), wobei ihr schmerzlich bewusst ist, dass Erfolg bei Frauen „keine Blutzufuhr in den Penissen bewirkt“, denn erfolgreiche Frauen, so die Erfahrung, verschrecken Männer. Sargnagel und Rösinger fahren umher, treffen nette, spannende, skurrile und seltsame Menschen, sehnen sich nach besserem Essen und ein bisschen Aufregung – und schildern das so komisch, so lustig, so trocken, dass man gerne dabei gewesen wäre.

Irre Wolken

von Markus Berges , Rowohlt Berlin

Der 19jährige "Kuli" arbeitet 1 Jahr freiwillig in der Psychiatrie und verliebt sich dort in die Patientin Anne Schmidt, auf die er eigentlich aufpassen sollte.

Der für seine Songlyrik hochgelobte Sänger und Songwriter der Band „Erdmöbel“, Markus Berges, hat mit „Irre Wolken“ seinen dritten bemerkenswerten Roman vorgelegt. Es geht um den „Kuli“ genannten 19jährigen, der Mitte der 80er ein Jahr in der Psychiatrie absolviert, in einer Anstalt, die „draußen“ nur „die Hülle“ heißt. Dort begegnet er der Patientin Anne Schmidt, die von ihrer Familie wegen ihrer psychotischen Schübe eingeliefert wird. Sie wittert überall den “totalen Atomstaat“ und die „Atom-Mafia“ (wobei das im Tschernobyl-Jahr 1986 in der Protestbewegung eher eine Mainstream-Meinung war). „Kuli“ ist fasziniert von klugen, aufregenden Anne, die aber auch andere Seiten hat und schon bald in der Anstalt ein Zimmer zerlegt und droht, jemand mit einem Wasserhahn den Schädel einzuschlagen. Bei einem Spaziergang läuft sie weg – und er lässt sie laufen. Es entwickelt sich eine heimliche, verbotene Affäre, für ihn eine große Liebe, in einem geheimen Liebeslager an der Ems im Münsterland, wo sie zelten, baden, sich lieben. In Ihrem Versteck sind sie sich einerseits ganz nah, andererseits auch ganz fremd, denn, wie er immer wieder bemerkt, sie bleibt ja immer auch Patientin. Manchmal scheint sich das Verhältnis für ihn umzukehren: Er, der leicht übergewichtige Junge, fühlt sich durch diese Frau wie befreit von der Enge der Familie, des Ortes, der Umstände. Plötzlich aber ist sie weg aus dem Versteck und taucht später erneut als Patientin in der „Hülle“ auf. Die großen Gefühle lassen für ihn alles, selbst den GAU in der fernen Ukraine und die „Irre Wolken“ (die Radioaktivität bin nach Deutschland tragen), in den Hintergrund treten. Aber nichts ist wie vorher. Markus Berges ist ein wunderbar zartes, einfühlsames, lebenskluges und lustiges Buch über eine erste große Liebe unter ganz besonderen Umständen gelungen. Wunderbar.

Kachelbads Erbe

von Hendrik Otremba, Hoffmann und Campe

Nach seinem beeindruckendenen Debüt („Über uns der Schaum“) hat der Schriftsteller, Künstler und Musiker („Messer“) Hendrik Otremba mit seinem neuen…

Nach seinem beeindruckendenen Debüt („Über uns der Schaum“) hat der Schriftsteller, Künstler und Musiker („Messer“) Hendrik Otremba mit seinem neuen Roman „Kachelbads Erbe“ die hohen Erwartungen mehr als erfüllt: Mit großer Stilsicherheit entwirft er in einer ganz eigenen Sprache die Geschichte um einen deutschen Forscher in den USA, der frisch Gestorbene tiefkühlen lässt, damit sie dereinst wieder aufgeweckt werden können. Das Unscharfe, Nebulöse, Geheimnisvolle dieses Romans entwickelt, beschleunigt durch die laufend wechselnden Erzählperspektiven, einen ganz eigenen Sog, wie alle Zuhörer beim Writers‘ Thursday feststellen konnten.

Kampfsterne

von Alexa Hennig von Lange, Dumont

Was für ein Roman, was für eine Autorin: In „Kampfsterne“ führt uns Alexa Hennig von Lange in eine scheinbar idyllische…

Was für ein Roman, was für eine Autorin: In „Kampfsterne“ führt uns Alexa Hennig von Lange in eine scheinbar idyllische Bungalowsiedlung, in der es auf den ersten Blick allen recht gut zu gehen scheint. Aber eigentlich sind alle zerfressen von Neid, unterdrückten Begierden, Ignoranz und leiden unter ihrer Kommunikationsunfähigkeit. Das klingt deprimierend, aber das wird so leicht und auch lustig erzählt, dass man nur staunen kann. Wie die Geschehnisse aus verschiedenen Perspektiven erzählt werden, ist mitreißend und genial gemacht. Insbesondere die Perspektive der Jugendlichen gelingt Alexa so überzeugend und liebevoll, dass man mit Johannes und Cotsch sofort mal einen Nachmittag verbringen wollen würde.

Keine gute Geschichte

von Lisa Roy, Rowohlt

Was für ein hammerhartes Debüt: Die in Leipzig geborene und heute in Köln lebende Lisa Roy führt uns mit ihrem…

Was für ein hammerhartes Debüt: Die in Leipzig geborene und heute in Köln lebende Lisa Roy führt uns mit ihrem Roman „Keine gute Geschichte“ in die tiefsten Tiefen und grauesten Ecken des Ruhrpotts – und der menschlichen Verwicklungen und Verstörungen. Vergesst Schimi-Romantik und Zechen-Nostalgie, here comes the reality. Die Mittdreißigerin Arielle Freytag wuchs einst im prekären Stadtteil Essen Katernberg auf. Seit 12 Jahren war sie nicht da, jetzt will sie der Oma zeitweise helfen. Mittlerweile ist sie Social Media Managerin in Düsseldorf, das von Katernberg aus wie ein unerreichbarer Planet wirkt. Ihr Vater ist unbekannt, von ihm hat sie schwarze lockige Haare und eine Hautfarbe, die manche auf eine türkische oder kroatische Herkunft schließen lassen – als sie vorübergehend als Escort arbeitete, hat sie gerne damit gespielt. Die Mutter verschwand früh, diese Wunde schmerzt immer noch – ging die geliebte Mutter freiwillig oder unter Zwang? Warum meldete sie sich nie mehr? Ist sie vielleicht tot? In Katernberg sind zwei jüngere Mädchen verschwunden, das wirft Arielle, die wegen Depressionen länger in „der Klapse“ war, wie sie selbst sagt, mit Wucht zurück auf die ungelösten Fragen zur verschwundenen Mutter. Hindert sie aber nicht daran, mit dem Vater der einen Verschwundenen gleich ein Verhältnis anzufangen. Und was für Geheimnisse verbirgt die verbitterte, verschrobene Oma, die sie einst alleine aufziehen musste und ihr das heute recht deutlich vorwirft? Die Wahrheit kommt nur sehr langsam heraus. Du kannst das Mädchen aus dem Ghetto kriegen, aber nicht das Ghetto aus dem Mädchen, sagt ihr eine alte Bekannte aus ihrem früheren Wohnblock, die sie noch unter dem Spitznamen „die Matratze“ kennt. Und Arielle spürt, wie wahr das ist: Aufstieg hin, Aufstieg her, aus dieser Klasse gibt es vielleicht kein Entkommen. Kurzum: Ein kompromissloser, schnörkelloser, fesselnder, großer Wurf!

Klapper

von Kurt Prödel, Park x Ullstein

Kurt Prödel aus Köln ist ein Multitalent, das Musikvideos dreht, Schlagzeug in einer Punkband spielt, Hörbücher aufnimmt und in den…

Kurt Prödel aus Köln ist ein Multitalent, das Musikvideos dreht, Schlagzeug in einer Punkband spielt, Hörbücher aufnimmt und in den sozialen Medien aktiv ist. „Klapper“ ist sein lustiger und zugleich melancholischer Debütroman. Es geht um den 16jährigen Thomas in einer nordrheinwestfälischen Kleinstadt, der von allen nur „Klapper“ genannt wird, weil seine Knochen bei jeder Bewegung die seltsamsten Geräusche machen. Der Außenseiter ist groß, schlaksig, hat lange, dünne Haare und trägt stets T-Shirts von Metalbands und oft einen langen Trenchcoat, der ihn aussehen lässt wie einen der Columbine-Attentäter. Er ist ein absoluter Experte in seiner Computer-Ego-Shooter Welt des beliebten Ballerspiels „Counterstrike“. In der Klasse gilt er als verlachter Sonderling. Dann es kommt ein großes, kräftiges, einschüchterndes Mädchen in die Klasse, das „Bär“ genannt werden will. Sie erkennt in ihm den „coolen Freak“, eine zarte Freundschaft entwickelt sich, ihre gemeinsame Leidenschaft ist „Counterstrike“. Es gibt andere Gemeinsamkeiten, schwierige Familienverhältnisse: Seine Mutter leidet an schweren Depressionen, sein Vater ist ein verklemmter Spießer, der es allen recht machen will und nur Dire Straits hört. Ihre Mutter ist Alkoholikerin, der Vater ein Chaot, völlig überfordert von den sieben Kindern. Als „Klapper“ Gefühle für „Bär“ entwickelt und sie unbeholfen zeigen will, geht alles schief. Es geht um die erste Liebe, um Außenseiter, Computerwelten, peinliche Eltern, Texte von Kollegah, Zitronenkrümeleistee, eine existenzielle Verlorenheit und hilflose Begierde. Das ist ergreifend, melancholisch und immer wieder zugleich sehr, sehr lustig – mit einem Hauch von Depression. Chapeau!

Klarkommen

von Ilona Hartmann , Ullstein

Die Erzählerin und zwei Freunde ziehen von einem namenlosen Dorf in eine namenlose Großstadt, aber das Leben unterläuft permanent die eigenen Erwartungen. Das tolle Leben, das haben immer die anderen.

Wo eigentlich versteckt sich das wilde, ungestüme, aufregende Leben? Darum geht es in „Klarkommen“, dem zweiten Roman von Ilona Hartmann. Mounia, Leon und die Erzählerin leben in einem namenlosen Dorf und sehnen sich nach nichts mehr als der namenlosen Großstadt, in der sie all das zu finden hoffen, was sie gerade nicht haben: Aufregung, Abenteuer, Grenzüberschreitungen, you name it. Vor der Haustür ist dagegen eher öde und ereignisarm, was auch nicht besser wird, als ihre Altersgenossen wenigstens den Alkohol entdecken, mit dem diese sich wegbeamen können – und das offensichtlich irgendwie gut finden. Mounia und die Erzählerin vertragen aber leider keinen Alkohol, also bleiben ihnen nur die Energydrinks. Als es dann endlich in die Großstadt geht, stellen sie ernüchtert fest, dass ihr Leben auch hier alle Erwartungen unterläuft. Von wegen Verheißung: Sie sind immer zu spät am falschen Ort, die WG, in der man wohnt, ist auch eher schlaff und öde, energielos und latent depressiv. Das Leben bietet also immer weit weniger als erhofft, alles ist spektakulär unspektakulär. Selbst die schlimmen Ereignisse sind nicht mal eine Anekdote wert, es ist zum Verzweifeln. Keine geile Zeit, keine geilen Geschichten – die passieren wieder nur den anderen. Die an sich normal-öde Normalität beschreibt Ilona Hartmann so lakonisch, teilweise poetisch, aber immer schnörkellos in kurzen und längeren Passagen und Aphorismen, dass es eine wahre Freude ist. So viel mitreißende Realität war selten, das ist das Befreiungsbuch für alle, die die Nase voll haben von den immergleichen Junger-Mensch-aus-der-Provinz zieht nach – meistens – Berlin und findet sich dort gerne nackt und völlig bedröhnt im Berghain oder KitKat irgendwie selbst. Jajaja. Kurzum: Danke Ilona, eine musste es ja mal sagen. Und damit müssen jetzt alle „Klarkommen“.

KOMMANDO AJAX

von Cemile Sahin , Aufbau

Ein Scharfschütze, ein Mord, ein gigantischer Kunstraub, ein Rachefeldzug und ein großes Familiendrama: Cemile Sahin (rechts), die preisgekrönte bildende Künstlerin…

Ein Scharfschütze, ein Mord, ein gigantischer Kunstraub, ein Rachefeldzug und ein großes Familiendrama: Cemile Sahin (rechts), die preisgekrönte bildende Künstlerin und Schriftstellerin, legt mit ihrem neuen Roman (aus dem sie hier erstmals las!!) – KOMMANDO AJAX – einen raffinierten Page-turner vor, der einen gleichermaßen packt und berührt. Warum wird ein junger Bräutigam, Mitglied einer ehrbaren, braven Familie, aus dem Nichts bei seiner Hochzeit in Rotterdam erschossen? Es geht vor allem um die Geschichte eine Familie mit fünf Brüdern und einer Schwester aus Kurdistan, die in den Niederlanden leben und sich dort erfolgreich etabliert haben. Die Erzählung beginnt im Jahr 1995 und reicht in das neue Jahrtausend, mit vielen kurzen Rückblenden, die mosaikartig das Gesamtpanorama klar werden lassen, Verwicklungen, Probleme, Verhältnisse, die weit in die Vergangenheit reichen. Ein Bruder, Ali Hüyesin, malt für sein Leben gern, was seine Brüder, mit denen zusammen er in der Baubranche arbeitet, eher belächeln. Aber er hat das unglaubliche Talent, alte Meister so nachzuahmen, dass selbst Experten keinen Unterschied mehr erkennen können. Dieses Talent wird irgendwann von einer Koryphäe der Branche erkannt – und scheint Ruhm zu bringen. Aber auch echte Schwierigkeiten. Es geht um Verrat und einen unwahrscheinlichen Verräter, um Ehre, Politik und Lügen, um Angst und Rache – und immer wieder: um Kunst. Das wirkt wie ein Actionfilm und ist auch so geschrieben, mit Regieanweisungen und überraschenden Wendungen: packend, schnell, spannend. Toll.

Könnt ihr uns hören?

von Davide Bortot, Jan Wehn, Ullstein

Davide Bortots und Jan Wehns Buch „Könnt ihr uns hören?“ ist schon jetzt das ultimative Standardwerk zum Deutschen HipHop.

Davide Bortots und Jan Wehns Buch „Könnt ihr uns hören?“ ist schon jetzt das ultimative Standardwerk zum Deutschen HipHop.

L´amour numérique

von Oliver Polak, Suhrkamp

Das Multitalent Oliver Polak – mit Grimme- und Fernsehpreis ausgezeichneter Comedian, Talkmaster, Sänger (“Corona forever”) und ernsthafter Autor (“Gegen Judenhass”)…

Das Multitalent Oliver Polak – mit Grimme- und Fernsehpreis ausgezeichneter Comedian, Talkmaster, Sänger (“Corona forever”) und ernsthafter Autor (“Gegen Judenhass”) – las aus seinem noch nicht veröffentlichten, extrem lustigen und berührenden Episodenroman „L´amour numérique”. Der Spezialist für menschliche Schwächen, Brüche, Sehnsüchte und Abgründe erzählt hier in 20 Geschichten die Suche eines deutschen Comedian auf der Suche nach Liebe, Nähe, Sex, oder besser: nach der einen großen Liebe. Die oft auch nur eine Suche nach sich selbst ist – im Schatten der Vergangenheit mit einer Mutter, die ihm das Leben immer schon schwer gemacht hat. Es geht aber auch um die Stumpfheit, die seltenen Höhen und vielen absurden Tiefen des Onlinedatings, die der Erzähler erlebt und an denen er uns teilhaben lässt, ohne sich auch nur eine Sekunde zu schonen. Und die Leser natürlich auch nicht. Es sind absurde, zarte, berührende, immer auch groteske und lustige Momente, die uns mit ihm und seinem Hund Toto mitfühlen lassen. Und wer will, hat nach der Lektüre den perfekten Soundtrack für alle Lebens- und Liebesmomente, denn die passenden Songs sind ein wichtiger Teil jeder Story. Das macht gute Laune!

Land in Sicht

von Ilona Hartmann, Blumenbar

Ilona Hartmann las beim Writers´ Thursday Village in Flakes Garage aus ihrem bemerkenswerten Debütroman „Land in Sicht“, der, wie sie…

Ilona Hartmann las beim Writers´ Thursday Village in Flakes Garage aus ihrem bemerkenswerten Debütroman „Land in Sicht“, der, wie sie kurz erwähnte, zum Teil auf eigenen Erfahrungen basiert: Im Buch sucht die 24jährige Jana Bühler ihren Vater, der ihre Mutter bei ihrer Geburt verlassen hatte. Lange war ihr das mehr oder weniger egal, aber dann, nach einem Gespräch mit einem Freund, fällt ihr plötzlich auf, was für ein Loch in ihrer Identität, in ihrer Biografie klafft – und sie fängt an, ihn zu suchen. Durch Zufall findet sie ihn im Netz, er ist anscheinend Kapitän auf einem Kreuzfahrtschiff auf der Donau. Sie bucht anonym eine Reise auf der MS Mozart von Passau nach Wien, um „Milan“, ihren Vater, kennenzulernen. Sie ist die jüngste Frau auf einem Schiff voll Rentnern, was immer wieder zu absurder Situationskomik in diesem auch sehr lustigen Buch führt. Eine zeitlang hat sie den Eindruck, Milan macht sie sogar ein bisschen an, er weiß schließlich nicht, dass sie seine Tochter ist. Als sie sich ihm offenbart, bleibt der große emotionale Knall aus – und das ist eine der großen Stärken des Buchs von Ilona Hartmann: Ganz ohne Pathos, ohne emotionale Überwältigung, geradezu nüchtern und dadurch umso eindringlicher beschreibt sie, wie das ist, wenn man sich eine große Sehnsucht erfüllt, von der man sich vielleicht Erlösung erhofft hat, die aber dann so erst einmal gar nicht eintritt.

Liebe und andere Neurosen

von Katja Eichinger, Blumenbar

Katja Eichinger ist unsere Spezialistin für Neurosen. Zuletzt las sie beim Writers´ Thursday aus Ihrem Buch „Mode und andere Neurosen“,…

Katja Eichinger ist unsere Spezialistin für Neurosen. Zuletzt las sie beim Writers´ Thursday aus Ihrem Buch „Mode und andere Neurosen“, jetzt besuchte sie uns mit ihrem neuen Werk „Liebe und andere Neurosen“. In 10 unterhaltsamen, anekdotischen, aber auch analytischen Essays lotet sie unser Begehren und Verlangen aus: Wen und was begehren wir und warum, wie erfüllen wir unser Begehren, wo wird es uns verwehrt – so wie ihrer Urgroßmutter, die den Handwerker ihrer Träume nicht heiraten durfte und ein Leben lang darüber nachdachte, was wäre gewesen wenn… Es ist diese Mischung aus Familiengeschichten und Elementen der Popkultur (Warum hat Freud die weibliche Lust nicht richtig verstanden, die Serie Sex and the City aber schon?), die neue Perspektiven erkennen lässt und laufend Aha-Effekte auslöst. Es geht um Zweisamkeit, Familie, die Ehe und den Tod und die Tücken der Selbstliebe. Das ist schlau und lustig – so schön können Neurosen sein.

Liebewesen

von Caroline Schmitt, eichborn

Ein ergreifendes und hartes Debüt über eine sehr gegenwärtige Beziehung hat Caroline Schmitt mit „Liebewesen“ vorgelegt. Hauptfigur Lio ist 27…

Ein ergreifendes und hartes Debüt über eine sehr gegenwärtige Beziehung hat Caroline Schmitt mit „Liebewesen“ vorgelegt. Hauptfigur Lio ist 27 Jahre alt und Biologin, sie ist Single und hat in ihrem Leben, wie sie einmal sagt, noch nie richtigen Sex gehabt, wobei erst spät klar wird, was sich für eine erschütternde Wahrheit hinter „nicht richtig“ verbirgt. Ihre lebenslustige und sinnenfreudige Freundin Mariam verschafft Lio ein Tinder-Date mit Max, dem recht bekannten, scheinbar sehr selbstbewussten und coolen Radiomoderator, mit dem sie dann tatsächlich auch zusammenkommt und -zieht. Nicht nur ihre körperliche Beziehung ist von Anfang an schwierig, auch wenn beide es gerne anders hätten. Lio ist ihr Körper fremd, langsam wird deutlich, was für Spuren auch ihre Mutter bei ihr hinterlassen hat, die sie einst oft schlug während der Vater zu selten präsent und dann zu oft leicht alkoholisiert war. Und der lebensfroh wirkende Max aus der Bilderbuchfamilie leidet immer wieder an Depressionsschüben, die ihn lähmen. Es ist ein dauernder Kampf der beiden um Nähe und Abgrenzung, Körperlichkeit und Selbstschutz, um Wahrhaftigkeit und Selbstbehauptung. Diese harte und zarte Beziehungsstory, die so ungeschönt realistisch und gegenwärtig wirkt, hat Caroline Schmitt glänzend erzählt, und zwar so, dass sie einen richtig mitnimmt. Beeindruckend.

Lieder an das große Nichts

von Juliane Liebert, Suhrkamp

Juliane Liebert liest aus ihrem großartigen Gedichtband „lieder an das große nichts“ beim Writers‘ Thursday im Innenhof des Amtsalon. Wir…

Juliane Liebert liest aus ihrem großartigen Gedichtband „lieder an das große nichts“ beim Writers‘ Thursday im Innenhof des Amtsalon. Wir haben nicht oft Gedichte beim WT, aber bei diesem Band hier konnten wir ja gar nicht anders. Diese Gedichte von Juliane Liebert haben kein festes Versmass, es gibt keine Reime, aber einen unvergleichlichen Sound, eine beeindruckende Musikalität und über allem schwebt die Allgegenwart des Todes, des großen Nichts, das uns in den Gedichten in den verschiedensten Formen begegnet. Diese Poesie lässt niemand kalt.

M

von Anna Gien, Marlene Stark, Matthes & Seitz

Autorin Anna Gien hat zusammen mit ihrer Co-Autorin Markene Stark mit ihrem Roman „M“ eine wilden Ritt durch die Berliner…

Autorin Anna Gien hat zusammen mit ihrer Co-Autorin Markene Stark mit ihrem Roman „M“ eine wilden Ritt durch die Berliner Nacht-und Kunstszene geschrieben.

Madonna

von Lady Bitch Ray, KiWi

Dr. Reyhan Şahin, vielen auch als Rapperin Lady Bitch Ray bekannt, ist Wissenschaftlerin, Aktivistin, Bildungsferentin und Buchautorin. Die Feministin, die…

Dr. Reyhan Şahin, vielen auch als Rapperin Lady Bitch Ray bekannt, ist Wissenschaftlerin, Aktivistin, Bildungsferentin und Buchautorin. Die Feministin, die über das muslimische Kopftuch promoviert hat, war zuletzt beim Writers´ Thursday mit „Yalla, Feminismus“. Sie las aus ihrem neuen Werk: „Madonna“. Als Rapperin eckte Lady Bitch Ray mit ihrem Stil, der offensiv weibliche Sexualität in expliziter Sprache thematisierte, sie oft an drei Fronten an: bei der deutschen Mehrheitsgesellschaft, in ihrem konservativem Zuhause – und in der von männlichen Machos dominierten Rap-Szene selbst. Den dort verbreiteten Sexismus, die Frauen- und Schwulenfeindlichkeit (alles Tendenzen, die bürgerliche Kritiker lange lieber ignorierten oder als „authentisch“ irgendwie hinnahmen) prangerte sie offen an, was sie zur Zielscheibe machte. Sie wurde wegen ihrer Kunst und ihrer Kritik in einem ungeheuerlichen Maße angefeindet, bis sie zusammenbrach und sich zurückzog, worüber sie offen kommunizierte. In ihrer ganzen Karriere hatte sie lange vor allem ein Vorbild: Madonna. Auch eine Frau mit Migrationshintergrund aus konservativem Haushalt, die offen ihre weibliche Sexualität in den Mittelpunkt ihrer Kunst stellte und sich in einer feindlichen Männerwelt durchsetzte – und auf wilde, ausgefallene Klamotten stand. Als einst ein Junge aus ihre Umgebung sagte: „Bäh, das ist ja eine lesbische Schlampe“, dachte das damals junge Mädchen aus Bremen-Gröpelingen: „Yes, das will ich auch sein, eine lesbische Schlampe“. Ein hochinteressantes, Augen öffnendes Buch, das viel über Reyhan Şahin erzählt, aber genauso viel über die Musikszene und die Gesellschaft, in der wir leben.