Buchtipps

Buchempfehlungen von Rainer Schmidt (in alphabetischer Reihenfolge der Buchtitel)

Land in Sicht

von Ilona Hartmann, Blumenbar

Ilona Hartmann las beim Writers´ Thursday Village in Flakes Garage aus ihrem bemerkenswerten Debütroman „Land in Sicht“, der, wie sie…

Ilona Hartmann las beim Writers´ Thursday Village in Flakes Garage aus ihrem bemerkenswerten Debütroman „Land in Sicht“, der, wie sie kurz erwähnte, zum Teil auf eigenen Erfahrungen basiert: Im Buch sucht die 24jährige Jana Bühler ihren Vater, der ihre Mutter bei ihrer Geburt verlassen hatte. Lange war ihr das mehr oder weniger egal, aber dann, nach einem Gespräch mit einem Freund, fällt ihr plötzlich auf, was für ein Loch in ihrer Identität, in ihrer Biografie klafft – und sie fängt an, ihn zu suchen. Durch Zufall findet sie ihn im Netz, er ist anscheinend Kapitän auf einem Kreuzfahrtschiff auf der Donau. Sie bucht anonym eine Reise auf der MS Mozart von Passau nach Wien, um „Milan“, ihren Vater, kennenzulernen. Sie ist die jüngste Frau auf einem Schiff voll Rentnern, was immer wieder zu absurder Situationskomik in diesem auch sehr lustigen Buch führt. Eine zeitlang hat sie den Eindruck, Milan macht sie sogar ein bisschen an, er weiß schließlich nicht, dass sie seine Tochter ist. Als sie sich ihm offenbart, bleibt der große emotionale Knall aus – und das ist eine der großen Stärken des Buchs von Ilona Hartmann: Ganz ohne Pathos, ohne emotionale Überwältigung, geradezu nüchtern und dadurch umso eindringlicher beschreibt sie, wie das ist, wenn man sich eine große Sehnsucht erfüllt, von der man sich vielleicht Erlösung erhofft hat, die aber dann so erst einmal gar nicht eintritt.

Liebe und andere Neurosen

von Katja Eichinger, Blumenbar

Katja Eichinger ist unsere Spezialistin für Neurosen. Zuletzt las sie beim Writers´ Thursday aus Ihrem Buch „Mode und andere Neurosen“,…

Katja Eichinger ist unsere Spezialistin für Neurosen. Zuletzt las sie beim Writers´ Thursday aus Ihrem Buch „Mode und andere Neurosen“, jetzt besuchte sie uns mit ihrem neuen Werk „Liebe und andere Neurosen“. In 10 unterhaltsamen, anekdotischen, aber auch analytischen Essays lotet sie unser Begehren und Verlangen aus: Wen und was begehren wir und warum, wie erfüllen wir unser Begehren, wo wird es uns verwehrt – so wie ihrer Urgroßmutter, die den Handwerker ihrer Träume nicht heiraten durfte und ein Leben lang darüber nachdachte, was wäre gewesen wenn… Es ist diese Mischung aus Familiengeschichten und Elementen der Popkultur (Warum hat Freud die weibliche Lust nicht richtig verstanden, die Serie Sex and the City aber schon?), die neue Perspektiven erkennen lässt und laufend Aha-Effekte auslöst. Es geht um Zweisamkeit, Familie, die Ehe und den Tod und die Tücken der Selbstliebe. Das ist schlau und lustig – so schön können Neurosen sein.

Liebewesen

von Caroline Schmitt, eichborn

Ein ergreifendes und hartes Debüt über eine sehr gegenwärtige Beziehung hat Caroline Schmitt mit „Liebewesen“ vorgelegt. Hauptfigur Lio ist 27…

Ein ergreifendes und hartes Debüt über eine sehr gegenwärtige Beziehung hat Caroline Schmitt mit „Liebewesen“ vorgelegt. Hauptfigur Lio ist 27 Jahre alt und Biologin, sie ist Single und hat in ihrem Leben, wie sie einmal sagt, noch nie richtigen Sex gehabt, wobei erst spät klar wird, was sich für eine erschütternde Wahrheit hinter „nicht richtig“ verbirgt. Ihre lebenslustige und sinnenfreudige Freundin Mariam verschafft Lio ein Tinder-Date mit Max, dem recht bekannten, scheinbar sehr selbstbewussten und coolen Radiomoderator, mit dem sie dann tatsächlich auch zusammenkommt und -zieht. Nicht nur ihre körperliche Beziehung ist von Anfang an schwierig, auch wenn beide es gerne anders hätten. Lio ist ihr Körper fremd, langsam wird deutlich, was für Spuren auch ihre Mutter bei ihr hinterlassen hat, die sie einst oft schlug während der Vater zu selten präsent und dann zu oft leicht alkoholisiert war. Und der lebensfroh wirkende Max aus der Bilderbuchfamilie leidet immer wieder an Depressionsschüben, die ihn lähmen. Es ist ein dauernder Kampf der beiden um Nähe und Abgrenzung, Körperlichkeit und Selbstschutz, um Wahrhaftigkeit und Selbstbehauptung. Diese harte und zarte Beziehungsstory, die so ungeschönt realistisch und gegenwärtig wirkt, hat Caroline Schmitt glänzend erzählt, und zwar so, dass sie einen richtig mitnimmt. Beeindruckend.

Lieder an das große Nichts

von Juliane Liebert, Suhrkamp

Juliane Liebert liest aus ihrem großartigen Gedichtband „lieder an das große nichts“ beim Writers‘ Thursday im Innenhof des Amtsalon. Wir…

Juliane Liebert liest aus ihrem großartigen Gedichtband „lieder an das große nichts“ beim Writers‘ Thursday im Innenhof des Amtsalon. Wir haben nicht oft Gedichte beim WT, aber bei diesem Band hier konnten wir ja gar nicht anders. Diese Gedichte von Juliane Liebert haben kein festes Versmass, es gibt keine Reime, aber einen unvergleichlichen Sound, eine beeindruckende Musikalität und über allem schwebt die Allgegenwart des Todes, des großen Nichts, das uns in den Gedichten in den verschiedensten Formen begegnet. Diese Poesie lässt niemand kalt.

M

von Anna Gien, Marlene Stark, Matthes & Seitz

Autorin Anna Gien hat zusammen mit ihrer Co-Autorin Markene Stark mit ihrem Roman „M“ eine wilden Ritt durch die Berliner…

Autorin Anna Gien hat zusammen mit ihrer Co-Autorin Markene Stark mit ihrem Roman „M“ eine wilden Ritt durch die Berliner Nacht-und Kunstszene geschrieben.

Madonna

von Lady Bitch Ray, KiWi

Dr. Reyhan Şahin, vielen auch als Rapperin Lady Bitch Ray bekannt, ist Wissenschaftlerin, Aktivistin, Bildungsferentin und Buchautorin. Die Feministin, die…

Dr. Reyhan Şahin, vielen auch als Rapperin Lady Bitch Ray bekannt, ist Wissenschaftlerin, Aktivistin, Bildungsferentin und Buchautorin. Die Feministin, die über das muslimische Kopftuch promoviert hat, war zuletzt beim Writers´ Thursday mit „Yalla, Feminismus“. Sie las aus ihrem neuen Werk: „Madonna“. Als Rapperin eckte Lady Bitch Ray mit ihrem Stil, der offensiv weibliche Sexualität in expliziter Sprache thematisierte, sie oft an drei Fronten an: bei der deutschen Mehrheitsgesellschaft, in ihrem konservativem Zuhause – und in der von männlichen Machos dominierten Rap-Szene selbst. Den dort verbreiteten Sexismus, die Frauen- und Schwulenfeindlichkeit (alles Tendenzen, die bürgerliche Kritiker lange lieber ignorierten oder als „authentisch“ irgendwie hinnahmen) prangerte sie offen an, was sie zur Zielscheibe machte. Sie wurde wegen ihrer Kunst und ihrer Kritik in einem ungeheuerlichen Maße angefeindet, bis sie zusammenbrach und sich zurückzog, worüber sie offen kommunizierte. In ihrer ganzen Karriere hatte sie lange vor allem ein Vorbild: Madonna. Auch eine Frau mit Migrationshintergrund aus konservativem Haushalt, die offen ihre weibliche Sexualität in den Mittelpunkt ihrer Kunst stellte und sich in einer feindlichen Männerwelt durchsetzte – und auf wilde, ausgefallene Klamotten stand. Als einst ein Junge aus ihre Umgebung sagte: „Bäh, das ist ja eine lesbische Schlampe“, dachte das damals junge Mädchen aus Bremen-Gröpelingen: „Yes, das will ich auch sein, eine lesbische Schlampe“. Ein hochinteressantes, Augen öffnendes Buch, das viel über Reyhan Şahin erzählt, aber genauso viel über die Musikszene und die Gesellschaft, in der wir leben.

Magic Man

von Florian Horwath, Voland & Quist

Vom Zauber der Dinge

Der österreichische Musiker Florian Horwath macht manchmal nicht nur mit sehr speziellen Instrumenten wie dem Omnichord wunderbare Musik, er hat auch sehr spezielle Leidenschaften: Er ist verrückt nach Luxus-Vintage-Sachen. Für Helmut-Lang-Mäntel, Rolex-Uhren, Raf-Simons-Bomber-Jacken stürzt er sich in unglaubliche Tauschkrimis, Kaufabenteuer, nervenzerstörende Suchaktionen. Manchmal treibt ihn auch die nackte Geldnot an, weil es mit der Musik gerade nicht so klappt.  Schon als Schüler verdealte er Swatch-Uhren an seine Mitschüler. Und nie konnte er sich entscheiden: Indie oder Glam, Swatch oder Rolex, am besten eigentlich alles, denn das ist sein Spirit: Es geht immer um alles. Und der Besitz von Dingen, die ihm gefallen, geben ihm Wärme, Geborgenheit und das Gefühl von Vollständigkeit. Über diese spezielle Leidenschaft hat er das sehr lustige und zutiefst menschenfreundliche Buch „Magic Man“ geschrieben (das übrigens auch lustig ist, wenn einen das Sammeln und Luxus-Vintage-Sachen NULL interessieren), aus dem er beim „F.A.Z. Quarterly – Writers´ Thursday Special“ erstmals in Deutschland. Dazu spielte er, der schon mit Patti Smith auf der Bühne stand, mit den Cardigans tourte und in der tollen Element-of-Crime-Doku von Charly Hübner („Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin“) im Kino zu sehen ist, zwei Stücke auf eben diesem geheimnisvollen Omnichord (just an dem Tag wurde sein neuer Song gerade released: „Light of Love“ mit KT Tunstall).

Miley Cyrus

von Dietmar Dath, Reclam

Die Pop-Queen

Dietmar Dath ist der hochproduktive Film- und Popkritiker der F.A.Z., der zugleich ein preisgekrönter Autor von mehr als zwei Dutzend Büchern (!) ist. Darunter Romane, Theaterstücke, Gedichte, Essays (etwa über Science Fiction und Marx), sein Wissen und sein Interesse an Themen ist schier beeindruckend. Er hat ein Buch über Miley Cyrus geschrieben. What? Warum denn ausgerechnet über die? Here´s the story: Im Jahr 2014 ging er in Frankfurt zu einem Konzert, um Sky Ferreria zu sehen, die vor dem Hauptact  Miley Cyrus auftrat. Cyrus interessierte Dath überhaupt nicht, trotzdem blieb er noch ein paar Minuten, um sich die ersten zwei Songs anzuhören. Die aber reichten aus, um „dem Hirni“ (Eigenbeschreibung) alle Vorurteile und alle Ignoranz aus dem Hirn zu blasen. Seitdem verfolgt er mit akribischem Interesse das Wirken und die Kunst der Frau, die mehr als 100 Millionen sogenannte Tonträger verkauft hat und mit ihrer Stimme und ihren Auftritten neue Maßstäbe im Popbusiness gesetzt hat. Mit neun Jahren sah sie das Musical „Mamma Mia“ und sagte ihrem Vater, der in Sachen Country Music unterwegs war: „Ich will Schauspielerin werden“. Mit 12 wurde sie als Hauptdarstellerin für die familienfreundliche Disney-Serie „Hannah Montana“, die in Windeseile extrem populär wurde, gecastet – der Rest ist eine durch und durch irre Erfolgsgeschichte. In der Serie spielte sie eine Jugendliche mit Doppelleben, einerseits „normale“ Jugendliche, andererseits inkognito unerkannt ein Popstar. Das wurde sie dann sehr schnell wirklich. Erste Veröffentlichungen erschienen noch als „Hannah Montana“, bald aber nur noch als Miley Cyrus (sie wurde als Kind immer „Smiley“ genannt, für den Künstlernamen wurde einfach das „S“ gestrichen). Aus dem familienkompatiblen Kinderstar entwickelte sich eine eigenständige Künstlerin, die ein radikal anderes Image annahm: Sie mischte mit sicherer Hand alle Musikgenres auf, bediente sich mit verblüffender Offenheit in der Popgeschichte und machte durch die knappesten Bühnenoutfits, die öbzönsten Fotos, Gesten und Bewegungen klar, wo jetzt die Reise hingehen sollte – in die absolute künstlerische Freiheit. Nebenbei drehte sie Filme, entwickelte vegane Sneakers und zeigt uentwegt ein soziales Engagement, das bei anderen unvorstellbar wäre. Dietmar Dath fasst es so zusammen: ”Diese Frau übertrifft in allem alle, sogar dauernd sich selbst.“ Faszinierend.

Mindset

von Sebastian Hotz/El Hotzo, Kiepenheuer & Witsch

Mit seinem Debütroman „Mindeset“ hat der Autor Sebastian Hotz – einer halben Millionen Twitter-Followern und 1,3 Millionen Instagram-Fans besser als…

Mit seinem Debütroman „Mindeset“ hat der Autor Sebastian Hotz – einer halben Millionen Twitter-Followern und 1,3 Millionen Instagram-Fans besser als „El Hotzo“ bekannt – ein satirisches und zugleich tieftrauriges Werk über den verzweifelten Kampf von randständigen Männern vorgelegt, die um Anerkennung und einen Ausweg aus ihrer Isolation und Bedeutungslosigkeit streben. Maximilian Krach, der CEO von „Krach Consulting“ ist überzeugt: Die Welt kann in Schafe und Wölfe unterteilt werden, und es kommt nur auf das richtige „Mindset“ an, um aus lahmen Schafen jagende Wölfe zu formen. Er selbst scheint mit seinen teuren Uhren, den perfekt sitzenden Slim-Fit-Anzügen und dicken Autos die Verkörperung des Aufstiegstraums. Den Weg dahin lehrt er in düsteren Seminarräumen mittelmäßiger Hotels, wohin es all jene zieht, die sich falsch in der Welt platziert sehen. Und damit verzaubert er auch den eigenbrödlerischen IT-Fachmann Mirko, der endlich einen Weg aus seinem öden Leben sieht und den Wolf in sich wecken will. Er wird zum fanatischen Gläubigen und kann es gar nicht fassen, dass das Leben und die Selbstdarstellung des Krach, wie er spät herausfindet, eine einzige Schummel-Show ist, ein Fake. Es ist so lustig wie beklemmend, Maximilian Krach und Mirko bei ihrer Suche nach einer neuen Identität jenseits ihres wahren Lebens zu begleiten. Es geht scharf und pointiert um vermeintliche Loser und bedrückende Männlichkeitsbilder, um Leere und Sehnsucht – und trotzdem ist „Mindset“ immer wieder auch sehr, sehr lustig.

Ministerium der Träume

von Hengameh Yaghoobifarah, Blumenbar

Hengameh Yaghoobifarah hat viele Jahre in der taz die vielbeachtete Kolumne „Habibitus“ geschrieben und mit Fatma Aydemir das Buch „Eure…

Hengameh Yaghoobifarah hat viele Jahre in der taz die vielbeachtete Kolumne „Habibitus“ geschrieben und mit Fatma Aydemir das Buch „Eure Heimat ist unser Albtraum“ herausgegeben – und vor einiger Zeit den hochgelobten Roman „Ministerium der Träume“ veröffentlicht: Es geht um die Türsteherin Nasrin, die eines Morgens erfährt, dass ihre Schwester Nushin bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Sie zieht zu Nushins pubertierender Tochter Parvin – und glaubt nicht an einen Unfall. Sie will Gewissheit, weshalb sie mit intensiven Recherchen anfängt. Dabei stellt sie fest, dass ihre geliebte Schwester, die so gut zu kennen glaubte, schon lange ein Leben führte, dessen Details sie jetzt überraschen. Hatte Nushin doch wieder mit der Sexarbeit angefangen? Warum hatte sie zu alten Freunden und Lovern gehalten, Kontakte, von denen Nas nichts wusste? Nas und ihre Nichte unterstellen sich zugleich gegenseitig, Dinge über die tote Schwester und Mutter zu verheimlichen, was zu Spannungen führt. Erst nach und nach offenbart sich Nas die ganze Geschichte. Ihre Schwester scheint Teil einer radikalen politischen Aktion gewesen zu sein – und eine Gefahr bekämpft zu haben, die sie alle betrifft. Es geht um Rassismus, rechte Gewalt und Sexismus, um Missbrauch und Traumatisierungen. Der Roman leuchtet Ecken aus, die viele nicht kennen und viele nicht alle sehen wollen. Vor allem aber geht es um Liebe und Solidarität, um eine große Geschwisterliebe und die Frage, wo man zuhause ist, wenn das kein Ort sein kann. Und das alles in einer sehr gelungenen Mischung aus Straßen- und Szeneslang und poetischer Sprache. Empfehlenswert!

Motörhead

von Charly Hübner, KiWi

Charly Hübner ist nicht nur einer der herausragendsten Schauspieler des Landes, der zudem mit der kongenialen Verfilmung des Thees Uhlmann…

Charly Hübner ist nicht nur einer der herausragendsten Schauspieler des Landes, der zudem mit der kongenialen Verfilmung des Thees Uhlmann Romans „Sophia, der Tod und ich“ sein sehr erfolgreiches Debüt als Spielfilmregisseur in die Kinos gebracht hat, sondern er ist auch ein absoluter leidenschaftlicher Musikfan. Er hat eine Doku über Feine Sahne Fischfilet gedreht, arbeitet an einer über Element of Crime, taucht in einem Video der Toten Hosen auf und hat ein ganz wunderbares Buch über Motörhead geschrieben, die Band, die sozusagen in jungen Jahren sein Leben gerettet und verändert hat und die ihn heute noch vor Dreharbeiten auf die richtige Betriebstemperatur bringt (etwa mit dem Song „Overkill“). Im Buch trifft er am Teufelsstein im Süden Mecklenburgs den Teufel, der ihn mit auf eine Zeitreise nimmt, auf der seine Leidenschaft für Lemmy & Co ergründet werden soll. Wir verstehen, wie das hibbelige Kind diese „lauteste Band der Welt“ als Erlösung begrüßt, weil sie die Energie bündelt und mit ihrem Lärm die kalte Welt auf Abstand hält. Es ist, wie Lemmy einst postulierte: Mit der Musik Teil der Welt werden, aber immer auch draußen bleiben! Sie ist ein Ventil für die Wut, das Unverständnis, die Ratlosigkeit und die Angst in den Jahren als Jugendlicher – und auch danach. Es geht um die Befreiung, Emanzipation und Identitätsfindung durch Musik. In Wacken sieht er Lemmy 2013 einmal kurz auf der Bühne, wenig später ist der Frontmann tot. Aber dafür gibt es ja die Literatur, und so trifft der Autor dank des Teufels Lemmy im Buch endlich zu einem langen Gespräch und ein paar „Jack und Coke“. Das kleine Büchlein ist eine sehr gelungene, anrührende Mischung aus einer großen Liebeserklärung an „Motörhead“ und einer wunderbaren literarischen Biographie.

MTTR

von Julia Friese, Wallstein

Fasziniert verfolgten die Gäste im vollen Lesesaal dem energiegeladenen Vortrag von Julia Friese, die in ihrem Debütroman „MTTR“ ihre schwangere…

Fasziniert verfolgten die Gäste im vollen Lesesaal dem energiegeladenen Vortrag von Julia Friese, die in ihrem Debütroman „MTTR“ ihre schwangere Protagonistin Teresa Borsig einem nicht enden wollenden Trommelfeuer aus Zumutungen aussetzt. Der Autorin gelingt es mit ihrer extrem schnellen, direkten, pulsierenden Sprache eindrucksvoll, den Druck, der auf der Protagonistin lastet, für die Leser kongenial zu übersetzen. „MTTR“ ist übrigens ein technischer Fachbegriff („Mean Time To Repair“), der die mittlere Reparaturzeit für ein kaputtes System bezeichnet. Und kaputt ist hier fast alles. Teresa will eigentlich kein Kind, vor allem, weil sie Angst hat, so zu werden wie ihre empathielosen, von äußeren Zwängen und unhinterfragten Konventionen getriebenen und verkorksten Boomereltern. Sie will alles richtig machen. Und wenn Erinnerungen an ihre eigene Kindheit aufflackern, geht es meist um Gefühlslosigkeit, Distanz und sogar Schläge. Selbst bei kürzesten Treffen schaffen die Eltern es meisterlich, die Stimmung durch Gängelung, Besserwisserei und Gedankenlosigkeit unter den Nullpunkt zu jagen. Als sich Teresa entschließt, das Kind trotzdem zu bekommen, erlebt sie die Institutionen und Menschen, die sie dabei aufsuchen muss – Krankenhäuser, Ärztinnen, Ämter, Beamte – als eine Verlängerung der Elternwelt, die hauptsächlich aus Boshaftigkeiten, Aggressionen, Bevormundungen und Kälte zu bestehen scheint. Es kommt ihr vor, als ob das ganze Land noch von einem kaputten Nachkriegsgeist beherrscht sei, überall prallt sie vor die unsichtbaren Mauern aus traditionellen Lebensentwürfen und überholten Konventionen – aber davon lässt sie sich nicht aufhalten. Ihr Kampf um Selbstbehauptung und Emanzipation lässt niemanden kalt.

Natürlich kann man hier nicht leben

von Özge Inan, Piper

Özge Inan führt uns mit ihrem Roman „Natürlich kann man hier nicht leben“ tief in den schwierigen Alltag der Türkei…

Özge Inan führt uns mit ihrem Roman „Natürlich kann man hier nicht leben“ tief in den schwierigen Alltag der Türkei vor allem in den 80er, 90er Jahren. Die in Deutschland geborene Nilay, Tochter türkischer Eltern, sieht im Fernsehen 2013 die Proteste im Istanbuler Gezi Park, ein Gefühl von Revolution liegt in der Luft, sie will sofort hin, mitmischen, zum Flughafen. Ihr Bruder Emre winkt ab, sie solle sich beruhigen, sie sei von hier (Deutschland), nicht von da (Türkei). Aber davon will sie nichts wissen. Der Roman führt uns dann in die 80er Jahre, wir lernen die damals noch jungen Eltern kennen, den Vater Selim und die spätere Mutter Hülya. Bei sind politisch aktiv und erleben, wie der türkischen Zivilgesellschaft nach dem Putsch von 1980 langsam die Luft abgeschnürt wird. Einerseits werden tausende kurdische Dörfer zwangswese geräumt, andererseits beschneiden die Militärs immer stärker den Handlungsspielraum von Opposition, Gewerkschaften, Studenten, Medien. Als Selim in einer Redaktionskonferenz ein aus Militärsicht heikles Thema vorschlägt, verrät ihn ein Kollege. Es drohen 5 Jahre Haft. Hülya ist schwanger. Sie wollen heiraten. Aber mit diesen Zukunftsaussichten? Wir erleben hautnah, was es heißt, unter Diktaturbedingungen die eigene Machtlosigkeit zu erfahren. Es geht um Solidarität und Freundschaft, um Angst und Verrat, um Liebe und Fluchtgedanken – denn will man so leben, selbst wenn man sein Land liebt? Spannend!

Nochmal Deutschboden

von Moritz von Uslar, Kiepenheuer & Witsch

Moritz von Uslar liest beim Writers‘ Thursday aus seinem aktuellen Buch „Nochmal Deutschboden“: Zehn Jahre nach seiner „teilnehmenden Beobachtung“ in…

Moritz von Uslar liest beim Writers‘ Thursday aus seinem aktuellen Buch „Nochmal Deutschboden“: Zehn Jahre nach seiner „teilnehmenden Beobachtung“ in der Kleinstadt Zehdenick in der brandenburgischen Provinz kehrt er zurück und will von allen wissen, was sich verändert hat, wer sich wie verändert hat – und warum. Wie war das, wie ist das hier mit den Rechten, mit dem Rassismus, der AfD? Mit der Langeweile und dem Alkohol? Er redet mit früheren Schlägern und Opfern, mit rechten und linken Skinheads, mit Flüchtlingen und den ganz normalen Tresenhockern und Trinkern in seiner Lieblingskneipe. Und legt dabei sozusagen die ganze (ost-) deutsche Provinz auf den Seziertisch.

Nullerjahre

von Hendrik Bolz, Kiepenheuer & Witsch

Beim Writers´ Thursday lieben wir coole Bücher und Musik – und schreibende Musiker (gelesen haben hier schon: Flake, Sven Regener,…

Beim Writers´ Thursday lieben wir coole Bücher und Musik – und schreibende Musiker (gelesen haben hier schon: Flake, Sven Regener, Lady Bitch Ray, Westbam, Alexander Hacke, Inga Humpe, Tobias Bamborschke, Dirk von Lowtzow u.v.m.). Diesmal hatten wir Hendrik Bolz mit seinem grandiosen Debüt „Nullerjahre“ zu Gast, der vielen als „Testo“ und damit als eine Hälfte des Rap-Duos „Zugezogen Maskulin“ bekannt sein dürfte. „Nullerjahre“ ist harter Stoff aus Stralsund. Da wuchs Hendrik auf, der Ende der 80er Jahre geboren wurde. In den Plattenbauten des Viertel Knieper West sind die Erwachsenen seit der Wende desillusioniert, auf den Straßen herrscht für die Jugendlichen Krieg. Die „Baseballschlägerjahre“ der 90er mögen „offiziell“ vorbei sein, die Gewalt ist es nicht – statt Böhze Onkels dröhnt nur Aggro Berlin aus den Boxen. Bolz beschreibt eine grausam archaische Welt, in der Rassismus, Antisemitismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit das Grundrauschen liefern (weswegen am Anfang des Buches eine Warnung vor expliziter Sprache steht, die tatsächlich angebracht ist) und Hakenkreuze und Schläger-Nazis im brutalen Alltag integriert sind. Der Erzähler versucht, in dieser feindlichen Welt so gut es geht zu leben und überleben, beschreibt eindringlich, wie der Terror des „Blickgeficke“ („Was guckst du so?“) und der Ekel vor der eigenen Schwäche, das Gefühl der Angst und Demütigung zu unfassbarer Ohnmacht und Wut führt. Und aus Opfern manchmal auch Täter macht. Bolz schreibt gnadenlos über sich selbst: “Ich habe gedemütigt, ich habe zugeschlagen. Das war kein schlimmer Traum, kein finsteres Märchen, das war ich.“ Das Buch mit seinem knallharten Beat ist ein erzählerisches Meisterstück, das Einblicke in eine Welt gibt, die viele lieber nicht wahrnehmen wollten und wollen und beim Lesen nicht nur bei denen zu Schweißausbrüchen führt, die Straßengewalt aus eigener Erfahrung kennen.

O Brother

von John Niven, btb

Der Schriftsteller John Niven schreibt schonungslos über die größte Tragödie seines Lebens - den Selbstmord seines Bruders und die Frage: Hätte er ihn retten können?

Der schottische Bestsellerautor John Niven – vielen vor allem durch seinen internationalen Erfolg „Kill Your Friends“ ein Begriff – kam extra für diesen Abend aus London, um „O Brother“ vor dem Erscheinen in Deutschland beim Writers´ Thursday zu präsentieren. In England ist das Werk ein Sunday-Times-Top-Ten-Bestseller. Es ist ein Memoir, das persönlichste, das härteste und bewegendste Buch, das Niven geschrieben hat. Es geht um eine große Tragödie, um seinen Bruder Gary, der 2010 im Alter von 42 Jahren an den Folgen eines Selbstmordversuches starb. Zu dem Zeitpunkt litt er an chronischen Höllenkopfschmerzen, Höllenschulden und lebte ein Höllenleben, das von Alkohol, Drogen und Knast bestimmt worden war. Niven untersucht in seinem Buch, wie zwei Brüder aus einer einfachen Arbeiterfamilie, die unter gleichen Bedingungen aufgewachsen sind, so verschiedene Leben führen konnten. Wie konnte aus dem lustigen, agilen, sensiblen Gary der harte Typ werden, der abgezockte Drogendealer, der für eine alberne Ganovenehre drei Jahre im schlimmsten Knast Schottlands verbrachte? Es geht um ein Aufwachsen in der schottischen Provinz, um die Bedeutung von Punk, Rave und Drogen – das Buch ist eine rasante Schussfahrt durch das englische Nachtleben und eine schonungslose Aufarbeitung der Frage: Hätte John Niven seinen Bruder retten können? Wo war er zu träge, zu faul, zu desinteressiert an dessen Schicksal? Er geht brutalst mit sich ins Gericht. Es gibt Stellen, die man kaum erträgt, etwa, wo er darüber sinniert, ob es nicht vielleicht besser für alle sei – für Gary selbst und alle in seiner Umgebung –, dass der Bruder tot ist. Es geht um Fragen, die nie beantwortet werden können und alle, die weiterleben, ein Leben lang verfolgen. Denn, so Niven: „Selbstmord ist das Tschernobyl der Seele, seine zerstörerische Kraft hört nie auf!“ Erschütternd.