Buchtipps
Nochmal Deutschboden
Moritz von Uslar liest beim Writers‘ Thursday aus seinem aktuellen Buch „Nochmal Deutschboden“: Zehn Jahre nach seiner „teilnehmenden Beobachtung“ in…
Moritz von Uslar liest beim Writers‘ Thursday aus seinem aktuellen Buch „Nochmal Deutschboden“: Zehn Jahre nach seiner „teilnehmenden Beobachtung“ in der Kleinstadt Zehdenick in der brandenburgischen Provinz kehrt er zurück und will von allen wissen, was sich verändert hat, wer sich wie verändert hat – und warum. Wie war das, wie ist das hier mit den Rechten, mit dem Rassismus, der AfD? Mit der Langeweile und dem Alkohol? Er redet mit früheren Schlägern und Opfern, mit rechten und linken Skinheads, mit Flüchtlingen und den ganz normalen Tresenhockern und Trinkern in seiner Lieblingskneipe. Und legt dabei sozusagen die ganze (ost-) deutsche Provinz auf den Seziertisch.
Nullerjahre
Beim Writers´ Thursday lieben wir coole Bücher und Musik – und schreibende Musiker (gelesen haben hier schon: Flake, Sven Regener,…
Beim Writers´ Thursday lieben wir coole Bücher und Musik – und schreibende Musiker (gelesen haben hier schon: Flake, Sven Regener, Lady Bitch Ray, Westbam, Alexander Hacke, Inga Humpe, Tobias Bamborschke, Dirk von Lowtzow u.v.m.). Diesmal hatten wir Hendrik Bolz mit seinem grandiosen Debüt „Nullerjahre“ zu Gast, der vielen als „Testo“ und damit als eine Hälfte des Rap-Duos „Zugezogen Maskulin“ bekannt sein dürfte. „Nullerjahre“ ist harter Stoff aus Stralsund. Da wuchs Hendrik auf, der Ende der 80er Jahre geboren wurde. In den Plattenbauten des Viertel Knieper West sind die Erwachsenen seit der Wende desillusioniert, auf den Straßen herrscht für die Jugendlichen Krieg. Die „Baseballschlägerjahre“ der 90er mögen „offiziell“ vorbei sein, die Gewalt ist es nicht – statt Böhze Onkels dröhnt nur Aggro Berlin aus den Boxen. Bolz beschreibt eine grausam archaische Welt, in der Rassismus, Antisemitismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit das Grundrauschen liefern (weswegen am Anfang des Buches eine Warnung vor expliziter Sprache steht, die tatsächlich angebracht ist) und Hakenkreuze und Schläger-Nazis im brutalen Alltag integriert sind. Der Erzähler versucht, in dieser feindlichen Welt so gut es geht zu leben und überleben, beschreibt eindringlich, wie der Terror des „Blickgeficke“ („Was guckst du so?“) und der Ekel vor der eigenen Schwäche, das Gefühl der Angst und Demütigung zu unfassbarer Ohnmacht und Wut führt. Und aus Opfern manchmal auch Täter macht. Bolz schreibt gnadenlos über sich selbst: “Ich habe gedemütigt, ich habe zugeschlagen. Das war kein schlimmer Traum, kein finsteres Märchen, das war ich.“ Das Buch mit seinem knallharten Beat ist ein erzählerisches Meisterstück, das Einblicke in eine Welt gibt, die viele lieber nicht wahrnehmen wollten und wollen und beim Lesen nicht nur bei denen zu Schweißausbrüchen führt, die Straßengewalt aus eigener Erfahrung kennen.
O Brother
Der Schriftsteller John Niven schreibt schonungslos über die größte Tragödie seines Lebens - den Selbstmord seines Bruders und die Frage: Hätte er ihn retten können?
Der schottische Bestsellerautor John Niven – vielen vor allem durch seinen internationalen Erfolg „Kill Your Friends“ ein Begriff – kam extra für diesen Abend aus London, um „O Brother“ vor dem Erscheinen in Deutschland beim Writers´ Thursday zu präsentieren. In England ist das Werk ein Sunday-Times-Top-Ten-Bestseller. Es ist ein Memoir, das persönlichste, das härteste und bewegendste Buch, das Niven geschrieben hat. Es geht um eine große Tragödie, um seinen Bruder Gary, der 2010 im Alter von 42 Jahren an den Folgen eines Selbstmordversuches starb. Zu dem Zeitpunkt litt er an chronischen Höllenkopfschmerzen, Höllenschulden und lebte ein Höllenleben, das von Alkohol, Drogen und Knast bestimmt worden war. Niven untersucht in seinem Buch, wie zwei Brüder aus einer einfachen Arbeiterfamilie, die unter gleichen Bedingungen aufgewachsen sind, so verschiedene Leben führen konnten. Wie konnte aus dem lustigen, agilen, sensiblen Gary der harte Typ werden, der abgezockte Drogendealer, der für eine alberne Ganovenehre drei Jahre im schlimmsten Knast Schottlands verbrachte? Es geht um ein Aufwachsen in der schottischen Provinz, um die Bedeutung von Punk, Rave und Drogen – das Buch ist eine rasante Schussfahrt durch das englische Nachtleben und eine schonungslose Aufarbeitung der Frage: Hätte John Niven seinen Bruder retten können? Wo war er zu träge, zu faul, zu desinteressiert an dessen Schicksal? Er geht brutalst mit sich ins Gericht. Es gibt Stellen, die man kaum erträgt, etwa, wo er darüber sinniert, ob es nicht vielleicht besser für alle sei – für Gary selbst und alle in seiner Umgebung –, dass der Bruder tot ist. Es geht um Fragen, die nie beantwortet werden können und alle, die weiterleben, ein Leben lang verfolgen. Denn, so Niven: „Selbstmord ist das Tschernobyl der Seele, seine zerstörerische Kraft hört nie auf!“ Erschütternd.
Panikherz
Für den Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre war Pop immer schon ein Hebel zur Weltbefragung, zur Ortsbestimmung, zu Orientierung in guten…
Für den Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre war Pop immer schon ein Hebel zur Weltbefragung, zur Ortsbestimmung, zu Orientierung in guten wie in unübersichtlichen Zeiten. In der autobiografischen Erzählung „Panikherz“ führt er uns an die Wurzeln dieser Leidenschaft und lässt er uns teilhaben an ihrer Entwicklung und Ausdifferenzierung in allen Lebenslagen. Und an seiner großen Zuneigung zu Udo Lindenberg, seinem Freund, seinem Lebensbegleiter, Lebensretter und Lebensmenschen. Im strengen Pastoren-Elternhaus sind Pop und Spaß keine relevanten Kategorien, das Leben ist ernst, die Musik ist ernst, die Texte sind ernst, gerne aus der Bibel, mahnend und ehrfurchtsvoll vorgetragen. Früh ist da das Gefühl die Gewissheit: Es muss noch eine andere, aufregendere Welt geben, irgendwo. Und dann gibt es ein literarisches Erschütterungs- und Erweckungserlebnis der besonderen Art: Die Texte Udo Lindenbergs, erstmals gehört, sind ein sofortiges Aufbruchssignal, die Bestätigung, dass hinter dem Familienhorizont noch andere Universen warten. Das Ziel ist klar und wird konsequent verfolgt: Dahin, wo die Musik spielt. In die Konzerte, in die Medien, zu den Künstlern. Alles, was den Blick erweitert, wird euphorisch begrüßt und umarmt. Alles muss erforscht werden, bis an die eigenen Grenzen und dann immer öfter auch gerne darüber hinaus. Die Macht der Nacht packt und verschlingt ihn lustvoll und schmerzhaft, irgendwann gibt es kein Halten mehr: Drogen, mehr Drogen, Süchte, Entziehungskuren, Rückfälle, Verlorenheit, Depressionen, monumentale Selbstzweifel und absurder Größenwahn, hemmungslose Selbstzerstörung – und dann, wenn alles zusammenzubrechen scheint: Udo. Immer wieder Udo, Udo der Weltgelehrte, der nicht moralisiert, nicht belehrt, der einfach da ist, besorgt und fürsorglich, mit praktischen Tipps und konkreten Angeboten. Benjamin von Stuckrad-Barre hat ein schonungslose, ein zartes, eine hartes, ein mitreißendes und immer wieder auch sehr lustiges Buch geschrieben, das mit seinen schönsten Triumphen und brutalsten Abstürzen, dem blanken Elend und den Glücksmomenten niemand kalt lassen kann. Es geht um Freundschaft und Schmerzen, um Optimismus und Depressionen, um das ganze Leben und daher immer wieder auch natürlich um: Musik. Ein grandioses Stück Literatur.
Patti Smith
Helene Hegemann hat beim Writers´ Thursday aus ihrem neuen, bisher unveröffentlichten Buch „Patti Smith“ gelesen, das Anfang Oktober erscheint. Wobei…
Helene Hegemann hat beim Writers´ Thursday aus ihrem neuen, bisher unveröffentlichten Buch „Patti Smith“ gelesen, das Anfang Oktober erscheint. Wobei der Titel „Patti Smith“ die literarische Untertreibung des Jahres sein dürfte. Denn das ist nicht einfach nur ein extrem scharfsinniger Text über die weltbekannte Musikerin, Poetin, Autorin, Künstlerin, die, wie es an einer Stelle heißt, phasenweise leider auch als das „spirituelle Maskottchen der Hochkultur“ dient und die sie einst unverhofft und zunächst unerkannt in jungen Jahren einmal Backstage getroffen hat, sondern es ist vor allem auch ein Buch über Christoph Schlingensief, der ihr in einer ersten Begegnung als Jugendliche wie eine „Mischung aus Jesus und Ruhrpott Hausmeister“ erschien, über seine unkonventionelle, extrem inspirierende Haltung zum Leben und zur Kunst – und wie gerade auch diese Haltung Helene Hegemann geholfen hat, aus einer tiefen Krise ins Leben zurückzufinden. „Patti Smith“ ist ein furioser, mitreißender, bewegender und abschnittsweise mal sehr analytischer, mal sehr persönlicher Text über zwei ganz besondere Künstler und Menschen, über die Kraft der Kunst und die überlebenswichtige und richtige Haltung zum Leben. Wer danach nicht sofort Musik von Patti Smith hören und alle Videos und Filme und Stücke von und mit Christoph Schlingensief studieren will, dem oder der ist dann auch nicht mehr zu helfen.
Pleasure
Jovana Reisinger, die hochgelobte Filmemacherin, Autorin, Künstlerin, neuerdings auch Schauspielerin, hat nach „Enjoy Schatz“ und „Spitzenreiterinnen“ mit „Pleasure“ ein radikales,…
Jovana Reisinger, die hochgelobte Filmemacherin, Autorin, Künstlerin, neuerdings auch Schauspielerin, hat nach „Enjoy Schatz“ und „Spitzenreiterinnen“ mit „Pleasure“ ein radikales, fulminantes Manifest für Völlerei, Rumliegen, Glamour, Trash und Kitsch geschrieben. Und einen Lobgesang auf die subversive Kraft der Tussi, die mit ihrer Vorliebe für „zu viel“ Pink, Strass und extravagante Gel-Fingernägel die sich selbst als kultivierter und arrivierter betrachtenden Kreise aufschreckt und diese immer wieder selbstbewusst an ihre Toleranzgrenzen und gerne auch darüber hinaus stößt. „Pleasure“, das ist für Reisinger die bedingungslose Hingabe an die Gegenwart, an den Genuss, an die totale Bedürfnisbefriedigung, an unverhohlene Geilheit – und freudig begrüßte Exzesse. Pleasure kann in der richtigen Umgebung auch ein politischer Akt des Widerstandes sein, gegen ausbeuterische Arbeitssysteme, gegen normative Lebensvorstellungen, gegen ödeste Spießigkeit und Kontrollwut. So dekliniert die Autorin ihr Recht auf verschwenderische Fülle durch die Lebensbereiche Kleidung, Schlafen und Essen durch und erinnert immer wieder daran, dass es sich hierbei auch um die Schilderung eines „Klassenaufstiegs“ handelt, denn am Anfang der Überlegungen steht ein Vorgang, der demütigen sollte, sie aber nur um so mehr befeuerte. Beim Filmfest in München fragte eine Dame der Gesellschaft, ,die ihre Sexyness, ihren Glamour, ihren Style nicht ertrug, bei ihrem Anblick laut und deutlich: „Was macht denn das Unterschichtkind hier auf dem Roten Teppich?“ Diese Dame sollte „Pleasure“ lesen, dann kennt sie die Antwort genauer, als ihr vielleicht jemals lieb sein könnte. Und warum das „Unterschichtenkind“ überhaupt auf den roten Teppich wollte, erzählt Reisinger ganz zart und eindrucksvoll auf den ersten Seiten, wo sie eine Szene aus dem Wirtshaus ihrer Eltern beschreibt, wo die Haushaltshilfe Charlotte ihr am Tag einer Sonnenfinsternis ein für alle Mal klar machte, wie sie, die Tochter der Gastronomen, NIEMALS leben wollte. Ein starkes, kämpferisches Buch.
Pudels Kern
Der Kampf des jungen Künstlers aus dem Ostseedorf, in Hamburg eine eigene künstlerische Identität aufzubauen, hin- und hergerissen zwischen Abstürzen, Höhepunkten und schwärzesten Depressionen. Eine rasante Schussfahrt durch die Nacht.
Das legendäre Multitalent Rocko Schamoni las beim Writers´ Thursday aus seinem brandaktuellen Werk „Pudels Kern“, das erst im April offiziell erscheinen wird. Es geht um die Zeit Ende der 80er, Anfang der 90er in Hamburg. Ein junger Mann aus einem Ostseedorf (den manche noch aus seinem grandiosen Bestseller-Debüt „Dorfpunks“ kennen) hat die Lehre als Keramiker beendet und stürzt sich in das Szeneleben Hamburgs. Eben noch ehrfürchtig die Hardcorepunker der Gruppe Slime gehört, jetzt steht er plötzlich neben den Musikern in der Kneipe. Tagsüber arbeitet er als Zivildienstleistender beim Hamburger Spastikerverein, nachts zieht er durch die Gemeinde. Er sucht seine Rolle als Musiker und im Leben wie ein manisch Getriebener, hin und her gerissen zwischen zwei Polen: Einerseits will er das Sein erkunden, Erkenntnis und Sinn finden, andererseits geht es um Action, Ablenkung, Abfahrt, Irrsinn. Er, der „in der Familie schon früh kein Zuhause mehr gesehen“ hat, weiß nie: „Bin ich eigentlich auf der Flucht oder auf der Jagd?“ Er geht bald schon auf Tour mit den Toten Hosen und den Goldenen Zitronen, er soll zum Bravo-Star aufgebaut werden, was nicht sein Ding ist, es ist ein Leben mit, in und durch die Kunst. Er erlebt unfassbare Abstürze, erbarmungslose Kater, schlimmste Depressionen und fällt nach Höhepunkten in tiefste seelische Löcher, in denen er nichts mehr spürt und sieht außer Selbstverachtung und Hoffnungslosigkeit. Wir erleben einen Helden, der einerseits die totale Freiheit genießt und andererseits an der totalen Haltlosigkeit leidet. Das Buch ist eine äußerst rasante, faszinierende und mit allen Dramen eine oft auch sehr lustige Schussfahrt durch das irre Nacht- und Künstlerleben, von der man gar nicht genug bekommen kann.
Punk
Eckhart Nickel beschwört im Roman „Punk“ die subversive Kraft der Musik, ihr identitätsstiftendes und befreiendes Potential. Und bei jemand, der…
Eckhart Nickel beschwört im Roman „Punk“ die subversive Kraft der Musik, ihr identitätsstiftendes und befreiendes Potential. Und bei jemand, der einst Teil des „popliterarischen Quintetts“ war und nicht nur als extrem stilsicherer, sondern auch als kenntnisreicher Autor bekannt ist, überrascht es nicht, dass „Punk“ stellenweise auch eine Art Pop-Rätsel oder Wissensprüfung für Fans der Sounds der späten 70er und frühen 80er ist – zehn existenzielle Punk-Regeln inklusive. Es geht um Karen, die aus bürgerlichen Verhältnisse stammt, Klavier spielen kann und ein Zimmer sucht. Ihre Freundin Anne weist sie auf eine WG von zwei Brüdern hin, Ezra und Lambert, die eine Mitbewohnerin suchen. Die beiden gelten als „harte Tür“ bei Vorstellungsgesprächen, Karen versucht es trotzdem. Über dem harmlos wirkenden Plot hängt eine dystopische Grundstimmung: Eine mysteriöse akustische Naturerscheinung, die möglicherweise gar nicht natürlich ist, der „weiße Lärm“, hat das Leben verändert. Er wirkt wie eine Art allgegenwärtiger Tinnitus und übertüncht jede Hassrede, jede hitzige Debatte, das „Ministerium für Unterhaltung“ hat zudem Musik verboten, es ist ruhig und friedlich in der Welt, aber auch öde und langweilig. Nicht alle lassen sich das gefallen, auch Ezra und Lambert haben in ihrer Wohnung eine Kammer eingerichtet, in der sie heimlich musizieren – mit ihrer Band „Punk“, für die sie noch eine Stimme suchen. Und diese Stimme, so wird bei der WG-Vorstellung klar, sollte/könnte Karen sein. Eckhart hat ein Plädoyer gegen die Konformität geschrieben, für Leidenschaft, gegen Regeln, für Überraschung, für Musik, für Nerds, für das Verrückte. Und wer schon einmal Band-Namen wie The Smiths, Morrissey, Buzzcocks, Gang of Four etc. gehört hat, wird bei der Lektüre doppelt Spaß haben. Punk´s not dead!
Relax
Wie gut ihr Erstlingswerk „Relax“ gealtert ist, bewies Schriftstellerin Alexa Hennig von Lange, die aus ihrem 1997 erschienenen Buch las.…
Wie gut ihr Erstlingswerk „Relax“ gealtert ist, bewies Schriftstellerin Alexa Hennig von Lange, die aus ihrem 1997 erschienenen Buch las. Alexa hat seitdem ein umfangreiches, preisgekröntes Werk aus Romanen, Erzählungen, Theaterstücken und hervorragenden Jugendbüchern vorgelegt (wofür sie beispielsweise den Deutschen Jugendbuchpreis gewonnen hat). In „Relax“ geht es um die Beziehung von Chris und der „Kleinen“ inmitten der wilden Feierstürme der wilden 90er, die ein Wochenende aus ihrer jeweiligen Perspektive beschreiben. Er geht feiern, das heißt vor allem: Drogen, Alkohol, Sex. Es wird geraucht, geschluckt und geschnieft, was gerade so auf dem Tisch liegt. Und nach solchen Exzessen mit seinen Freunden kommt er oft heim „breit wie ein Panzer“, wie „die Kleine“ bemerkt, die derweil zu Hause die Zeit totschlägt und, ganz bieder, von einer Heirat mit Chris in Las Vegas träumt und sich in seiner ewigen Abwesenheit zu oft mit Harald, ihrem Vibrator, trösten muss. Es ist eine bedröhnte Leere, eine dröhnende Beziehungslosigkleit, die so anrührend wie erschütternd, aber auch immer wieder extrem komisch ist und in ihrer beeindruckenden Oberflächlichkeit überwältigend authentisch wirkt. Das Buch ist definitiv die Mutter vieler Nachtlebenromane aus der Clubszene, die danach noch folgen sollten. Und wenn man es wieder aufschlägt, weiß man auch warum – damit wurden Maßstäbe gesetzt.
Roxy
Wie blickt man nach langer Zeit auf Freundschaften zurück, die man einst für die wichtigsten, besten hielt? Wie auf den…
Wie blickt man nach langer Zeit auf Freundschaften zurück, die man einst für die wichtigsten, besten hielt? Wie auf den Lebensweg von jenen, die man einst fast wie Brüder gesehen hat – und wie auf den eigenen? Wo waren die kleinen Brüche, die zu großen wurden, wo die Abzweigungen, die man auch hätte nehmen können? Und wie sehr war man am Ende dann doch Gefangener des eigenen Milieus, ohne das man sich dessen in seinem ganzen Ausmaß zu Jugendzeiten bewusst war? Diese fragen stellt Johann Bülow, einer der bekanntesten Schauspieler seiner Generation, in seinem bemerkenswerten Debütroman „Roxy“, aus dem er beim Writers´ Thursday in Hamburg las. Und darüber lässt er seine Hauptfigur Marc Berger nachdenken, der von Berlin nach München fährt – zur Beerdigung seines einst besten Freundes Robert, genannt Roy, Sohn eines bekannten Münchener Industriellen, mit dem er oft in der Disco „Roxy“ abhing. Es geht um die universelle Geschichte von Freundschaft, Erwachsenwerden, von Zwängen und Anforderungen der Kreise, in denen wir uns bewegen und die frage, wie man ihnen entkommen kann – und ob man ihnen überhaupt entkommen kann.
Samuels Buch
Der in Bulgarien geborene und aufgewachsene, vielfach preisgekrönte Samuel Finzi (Schauspieler des Jahres, Deutscher Schauspielpreis etc.) ist nicht nur einer…
Der in Bulgarien geborene und aufgewachsene, vielfach preisgekrönte Samuel Finzi (Schauspieler des Jahres, Deutscher Schauspielpreis etc.) ist nicht nur einer der erfolgreichsten und bekanntesten Schauspieler des deutschsprachigen Raumes (zuletzt im Kino an der Seite von John Malkovich in „Seneca“), sondern auch ein begnadeter Erzähler, wie er in seinem Debütroman „Samuels Buch“ beweist: Es geht um eine Jugend im sozialistischen Bulgarien der 70er + 80er, wo die Familie des Erzählers Samuel – der Vater ist erfolgreicher Schauspieler, die Mutter Pianistin – unter den Zwängen und den Beschränkungen des real existierenden Sozialismus ein Bohème-Leben versucht. Sie kämpfen um ihre künstlerische und private Freiheit: Jeder Ausflug ans Meer, das Tanzen, die Partys, der Spaß, das alles sind auch immer Demonstrationen gegen die staatliche Macht. Samuel lehnt die Beschränkungen des Systems intuitiv früh ab – und will auf die Bühne, will sich frei entfalten und Grenzen überwinden. Samuel Finzi erzählt in diesem Entwicklungsroman eine sehr warme Familiengeschichte, die zugleich und sehr unaufdringlich eine politische Landesgeschichte ist. Die feine Ironie und die liebevoll erzählten Anekdoten aus dieser gar nicht so fernen Welt ziehen einen sofort in den Bann.
Schlachtensee
Es ist immer wieder eine große Freude, wenn unsere Freundin Helene Hegemann beim Writers´ Thursday auftritt. Diesmal las die extrem…
Es ist immer wieder eine große Freude, wenn unsere Freundin Helene Hegemann beim Writers´ Thursday auftritt. Diesmal las die extrem produktive Schriftstellerin (zuletzt: „Bungalow“, „Patti Smith“) , Drehbuchautorin, Filmemacherin und Regisseurin aus ihrem Erählband „Schlachtensee“, in dem sie 15 höchst unterschiedliche Geschichten versammelt hat, die niemanden schonen. Es geht um das Sterben, um Liebe, Sex und Gewalt, große Leere und Beziehungen, die keiner richtig durchblickt. In größter Kälte werden emotionalste Momente beschrieben, es sind suchende Figuren, die sich manchmal der Banalität ihres Lebens – obwohl oberflächlich teilweise sehr erfolgreich – bewusst zu sein scheinen, die alle ein bisschen verloren sind und gegen dieses Gefühl ankämpfen. Sie wissen nicht genau, was sie wollen, nur eins: Sie wollen anders sein als die anderen. Scheinbar absurde Ereignisse, schlaue Reflexionen und grotesker Humor machen das Buch zu einem einzigartigen Lesevergnügen. Unvergessen bleibt etwa der Pfau, der sein Rad verloren hat und deswegen dauernd nach vorne kippt, weil er nicht versteht, dass er kein Gewicht mehr auszugleichen hat. In Hamburg las Helene eine Erzählung, in der es um riesige Wildschweine geht, die aussehen wie Zeppeline auf Kokain, um Geburtstagskinder, die in seltsamen Substanzen Bäder nehmen – vor allem aber um einen Auftritt der Band Iron Maiden Auftritt im umkämpften Sarajevo. Großartig.
Schön ist die Nacht
Mit seinem erschütternden Buch „Ein Mann seiner Klasse“ über seine Jugend in Kaiserslautern in den 90er Jahren mit einem alkoholabhängigen…
Mit seinem erschütternden Buch „Ein Mann seiner Klasse“ über seine Jugend in Kaiserslautern in den 90er Jahren mit einem alkoholabhängigen und gewalttätigen Vater und in prekärsten Verhältnissen hat Christian Baron hierzulande ein Thema in die Öffentlichkeit gebracht, das viele lange nicht wahrnehmen wollten – und viele noch immer lieber kleinreden oder ignorieren würden: absolut entwürdigende Armut im Wohlstandsland Deutschland. Beim Writers´ Thursday las der Autor jetzt aus seinem großartigen neuen Roman „Schön ist die Nacht“, in dem er die Geschichte seiner beiden Großeltern fiktionalisiert hat. Es geht um eine lebenslange Freundschaft zwischen zwei Männern, die gerne ihrem Milieu entkommen würden, aber immer wieder vor die unsichtbaren gesellschaftlichen Gitterstäbe knallen. Willy, der Zimmermann, versucht in den 70er Jahren unter den schwierigen Umständen und drohender Arbeitslosigkeit wenigstens mit maximalem Anstand durchs Leben zu gehen, Horst neigt mehr zu kleinkriminellen Verhalten – wo er manchmal auch Willy hineinzieht – und Gewaltausbrüchen, immer wieder auch gegenüber den Kindern. Es geht um die große Lüge des Aufstiegsversprechen der jungen Bundesrepublik, um die Unerfüllbarkeit ihrer Träume von ein bisschen Sicherheit, Liebe, Wohlstand. Und immer wieder auch um wichtige Bezugspunkte ihres Lebens – Kneipen, Alkohol, Fußball. Es ist ein oftmals trostloser, energiefressender Abwärtsstrudel, in dem sie sich aneinanderklammern wie Ertrinkende. Und trotz aller Strampelbewegungen entkommen sie nicht ihrer Klasse. Dass Christian dabei auch die schönsten Sprachmarotten der damaligen Zeit und seiner alten Heimat – „Sabberrinne“, „Riechpriemen“, „mein alter Freund und Kupferstecher“ – auf natürlichste Art einfließen lässt, ist nur einer von vielen faszinierenden Aspekten der Geschichte. Ein tolles, wichtiges Buch!
Schönwald
Philipp Oehmke hat gleich mit seinem Debütroman „Schönwald“ ein in jedem Sinne des Wortes großes Werk hingelegt: Der 540 Seiten…
Philipp Oehmke hat gleich mit seinem Debütroman „Schönwald“ ein in jedem Sinne des Wortes großes Werk hingelegt: Der 540 Seiten (!!) starke Stoff ist ein höchst gegenwärtiger, glänzend erzählter Familien- und Gesellschaftsroman, wie man ihn sonst eigentlich nur aus der amerikanischen Literatur kennt – und das hatte er auch ganz unbescheiden genau so angekündigt, zurecht, wie man sagen muss 😉 Es geht um die Familie Schönwald, um die Eltern Harry und Ruth und ihre drei Kinder. Harry ist pensionierter Staatsanwalt, seine Frau Ruth ist Thomas-Mann-Expertin, die gerne Professorin geworden wäre, aber wegen der drei Kinder Hausfrau wurde. Ein Ausbruchversuch war vor langer Zeit gescheitert und lastet seitdem wie ein dunkler Schatten über ihrer Ehe und der Familie. Aber ihr Motto ist: Never complain, never explain. Das Verschweigen gilt ihr als zivilisatorischer Akt. Der jüngste Sohn Benni bastelt als genialer Mathematiker erfolglos an einer schwierigen Formel, seine Frau ist die Tochter eines Milliardärs, die ihre eigene Familie genau so hasst wie die von Benni. Der ältere Sohn Chris war liberaler Starprofessor in den USA, bis er wegen eine MeToo-Affäre gefeuert wurde und seitdem wider besseren Wissens, aus Spaß sozusagen, als übergelaufener Star in der rechten Trump-Szene gilt. Karolin ist die Schwester, die in Berlin einen queer-feministischen Buchladen eröffnet. Zu diesem Anlass trifft sich die ganze Familie in der deutschen Hauptstadt – und als dort Aktivisten gegen die Eröffnung protestieren, weil sie Geld von Nazis im Hintergrund vermuten, bricht in der Familie plötzlich alles auf, all das Unausgesprochene, Verheimlichte, Verdrängte – und alle müssen lernen, mit Wahrheiten zu leben. Diese Geschichte entwickelt durch ihre erzählerische Leichtigkeit und überraschende Wendungen so einen Sog, dass man gerne auch noch 100 Seiten mehr gelesen hätte.
Soledad
Der Roman „Soledad“ entführt uns nach Kolumbien . Die junge Hamburger Fotografin Alena möchte nach einer anstrengenden Auftragsarbeit mit ihrer…
Der Roman „Soledad“ entführt uns nach Kolumbien . Die junge Hamburger Fotografin Alena möchte nach einer anstrengenden Auftragsarbeit mit ihrer Lebenspartnerin noch ein paar Tage an der Küste im Dschungel in der Tortuga Lodge verbringen, aber am Vorabend streiten sie sich so, dass die Freundin abreist. Alena fährt trotzdem in die Anlage, die der Deutsche Rainer betreibt, der 70 ist und dort mit einer halb so alten Frau und einem kleinen Kind lebt. Vom ersten Tag an hat Rainer das Bedürfnis, Alena sein Leben zu erzählen, das wie ein bundesrepublikanischer Entwicklungsroman anmutet: Lieblose Kindheit in kleinbürgerlichem Muff, in dem die Nazivergangenheit der engeren Verwandtschaft nie geklärt wird, in der Verdruckstheit, Härte und Kälte herrscht. Rainer träumt von Rebellion und Ausbruch und findet Erlösung im Reisen. Mit Ehefrau wiederholt nach Indien, später allein als Hotelbetreiber nach Bolivien und Venezuela, schließlich Kolumbien, wo er das Gelände einem Drogenbaron abkauft. Doch auch hier will er wieder weg, es geht immer weiter, seine Suche scheint nie zu enden. Von Alena erfahren wir, dass sie das Kind russischer Auswanderer ist, aufgewachsen in prekären Verhältnissen will sie um jeden Preis in der deutschen Gesellschaft ankommen – und schafft es auch. Doch in ihr lodert seither eine Wut, die sie nur mit Mitteln wie Lorazepam und Benzedrin zügeln kann. Die beiden ungleichen Charaktere verbindet mehr, als es zunächst den Anschein hat – wobei ein ikonisches Foto aus den späten 60ern auch eine mysteriöse Rolle spielt. Es geht um Identitätssuche und universelle Fragen: Wo kann ich sein, und wer bin ich überhaupt? Wo ist mein Zuhause? Wo gibt es Anerkennung, wo das Gefühl der Zugehörigkeit? Das geht alle an.
Spitzenreiterinnen
Sie heißen wie Frauenzeitschriften: Barbara, Petra, Jolie, Verena, Lisa ode Laura - und ihre Leben werden von Klischees genau so bestimmt wie von den Strukturen, die sie einzwängen.
Das hochproduktive, preisgekrönte Multitalent Jovana Reisinger (Autorin, Filmemacherin, bildende Künstlerin, FAZ- und Vogue-Kolumnistin), deren Stück „Enjoy, Schatz“ (nach ihrem gleichnamigen Buch) demnächst in der Berliner Schaubühne Premiere haben (27. Juni) und in dem sie selbst auf der Bühne spielen wird (!), las aus ihrem beeindruckenden Roman „Spitzenreiterinnen“: Es geht um das Leben von sieben Frauen, die wie bekannte Frauenzeitschriften heißen (Lisa, Laura, Tina, Barbara, Petra, Jolie, Verena) und von deren Klischee-Erzählungen geprägt sind. Sie alle leben in relativem Wohlstand in Bayern, von außen könnte man bei den meisten vermuten, ihnen ginge es gut. Aber sie alle sind mit einer Welt konfrontiert, in der permanent ungefragt über sie geurteilt wird: über ihr Aussehen, ihren Erfolg, ihre Figur, ihre Lebensziele und Aktionen. Die Erwartungen sind immens und unverschämt, der Druck, der dadurch entsteht – und den sie auch selbst auf sich teilweise ausüben -, ist es auch. Es geht um alltägliche Zwänge, latenten und ganz plumpen Sexismus, manchmal um brutalste Gewalt (zum Beispiel in der Ehe), um unterdrückte Sehnsüchte, naive Hoffnungen (Ehe als größte Erfüllung), große Gefühle und Zweifel an allem, kurzum: um das normale Leben vieler Frauen. Die Männer, die vorkommen, werden übrigens lediglich nach mit ihren Anfangsbuchstaben benannt (etwa „C.“), reicht dann auch. Und wie Jovana Reisinger die härtesten Szenen und erschütterndsten Umstände im leichtesten, Ton beschreibt, ist so mitreißend und „erfrischend fatalistisch“, wie es irgendwo hieß, dabei immer wieder auch so überraschend komisch – trotz der deprimierenden, widrigen Welt, um die es geht , dass man nur noch staunen kann.