Buchtipps

Buchempfehlungen von Rainer Schmidt (in alphabetischer Reihenfolge der Buchtitel)

Magic Man

von Florian Horwath, Voland & Quist

Vom Zauber der Dinge

Der österreichische Musiker Florian Horwath macht manchmal nicht nur mit sehr speziellen Instrumenten wie dem Omnichord wunderbare Musik, er hat auch sehr spezielle Leidenschaften: Er ist verrückt nach Luxus-Vintage-Sachen. Für Helmut-Lang-Mäntel, Rolex-Uhren, Raf-Simons-Bomber-Jacken stürzt er sich in unglaubliche Tauschkrimis, Kaufabenteuer, nervenzerstörende Suchaktionen. Manchmal treibt ihn auch die nackte Geldnot an, weil es mit der Musik gerade nicht so klappt.  Schon als Schüler verdealte er Swatch-Uhren an seine Mitschüler. Und nie konnte er sich entscheiden: Indie oder Glam, Swatch oder Rolex, am besten eigentlich alles, denn das ist sein Spirit: Es geht immer um alles. Und der Besitz von Dingen, die ihm gefallen, geben ihm Wärme, Geborgenheit und das Gefühl von Vollständigkeit. Über diese spezielle Leidenschaft hat er das sehr lustige und zutiefst menschenfreundliche Buch „Magic Man“ geschrieben (das übrigens auch lustig ist, wenn einen das Sammeln und Luxus-Vintage-Sachen NULL interessieren), aus dem er beim „F.A.Z. Quarterly – Writers´ Thursday Special“ erstmals in Deutschland. Dazu spielte er, der schon mit Patti Smith auf der Bühne stand, mit den Cardigans tourte und in der tollen Element-of-Crime-Doku von Charly Hübner („Wenn es dunkel und kalt wird in Berlin“) im Kino zu sehen ist, zwei Stücke auf eben diesem geheimnisvollen Omnichord (just an dem Tag wurde sein neuer Song gerade released: „Light of Love“ mit KT Tunstall).

Miley Cyrus

von Dietmar Dath, Reclam

Die Pop-Queen

Dietmar Dath ist der hochproduktive Film- und Popkritiker der F.A.Z., der zugleich ein preisgekrönter Autor von mehr als zwei Dutzend Büchern (!) ist. Darunter Romane, Theaterstücke, Gedichte, Essays (etwa über Science Fiction und Marx), sein Wissen und sein Interesse an Themen ist schier beeindruckend. Er hat ein Buch über Miley Cyrus geschrieben. What? Warum denn ausgerechnet über die? Here´s the story: Im Jahr 2014 ging er in Frankfurt zu einem Konzert, um Sky Ferreria zu sehen, die vor dem Hauptact  Miley Cyrus auftrat. Cyrus interessierte Dath überhaupt nicht, trotzdem blieb er noch ein paar Minuten, um sich die ersten zwei Songs anzuhören. Die aber reichten aus, um „dem Hirni“ (Eigenbeschreibung) alle Vorurteile und alle Ignoranz aus dem Hirn zu blasen. Seitdem verfolgt er mit akribischem Interesse das Wirken und die Kunst der Frau, die mehr als 100 Millionen sogenannte Tonträger verkauft hat und mit ihrer Stimme und ihren Auftritten neue Maßstäbe im Popbusiness gesetzt hat. Mit neun Jahren sah sie das Musical „Mamma Mia“ und sagte ihrem Vater, der in Sachen Country Music unterwegs war: „Ich will Schauspielerin werden“. Mit 12 wurde sie als Hauptdarstellerin für die familienfreundliche Disney-Serie „Hannah Montana“, die in Windeseile extrem populär wurde, gecastet – der Rest ist eine durch und durch irre Erfolgsgeschichte. In der Serie spielte sie eine Jugendliche mit Doppelleben, einerseits „normale“ Jugendliche, andererseits inkognito unerkannt ein Popstar. Das wurde sie dann sehr schnell wirklich. Erste Veröffentlichungen erschienen noch als „Hannah Montana“, bald aber nur noch als Miley Cyrus (sie wurde als Kind immer „Smiley“ genannt, für den Künstlernamen wurde einfach das „S“ gestrichen). Aus dem familienkompatiblen Kinderstar entwickelte sich eine eigenständige Künstlerin, die ein radikal anderes Image annahm: Sie mischte mit sicherer Hand alle Musikgenres auf, bediente sich mit verblüffender Offenheit in der Popgeschichte und machte durch die knappesten Bühnenoutfits, die öbzönsten Fotos, Gesten und Bewegungen klar, wo jetzt die Reise hingehen sollte – in die absolute künstlerische Freiheit. Nebenbei drehte sie Filme, entwickelte vegane Sneakers und zeigt uentwegt ein soziales Engagement, das bei anderen unvorstellbar wäre. Dietmar Dath fasst es so zusammen: ”Diese Frau übertrifft in allem alle, sogar dauernd sich selbst.“ Faszinierend.

Mindset

von Sebastian Hotz/El Hotzo, Kiepenheuer & Witsch

Mit seinem Debütroman „Mindeset“ hat der Autor Sebastian Hotz – einer halben Millionen Twitter-Followern und 1,3 Millionen Instagram-Fans besser als…

Mit seinem Debütroman „Mindeset“ hat der Autor Sebastian Hotz – einer halben Millionen Twitter-Followern und 1,3 Millionen Instagram-Fans besser als „El Hotzo“ bekannt – ein satirisches und zugleich tieftrauriges Werk über den verzweifelten Kampf von randständigen Männern vorgelegt, die um Anerkennung und einen Ausweg aus ihrer Isolation und Bedeutungslosigkeit streben. Maximilian Krach, der CEO von „Krach Consulting“ ist überzeugt: Die Welt kann in Schafe und Wölfe unterteilt werden, und es kommt nur auf das richtige „Mindset“ an, um aus lahmen Schafen jagende Wölfe zu formen. Er selbst scheint mit seinen teuren Uhren, den perfekt sitzenden Slim-Fit-Anzügen und dicken Autos die Verkörperung des Aufstiegstraums. Den Weg dahin lehrt er in düsteren Seminarräumen mittelmäßiger Hotels, wohin es all jene zieht, die sich falsch in der Welt platziert sehen. Und damit verzaubert er auch den eigenbrödlerischen IT-Fachmann Mirko, der endlich einen Weg aus seinem öden Leben sieht und den Wolf in sich wecken will. Er wird zum fanatischen Gläubigen und kann es gar nicht fassen, dass das Leben und die Selbstdarstellung des Krach, wie er spät herausfindet, eine einzige Schummel-Show ist, ein Fake. Es ist so lustig wie beklemmend, Maximilian Krach und Mirko bei ihrer Suche nach einer neuen Identität jenseits ihres wahren Lebens zu begleiten. Es geht scharf und pointiert um vermeintliche Loser und bedrückende Männlichkeitsbilder, um Leere und Sehnsucht – und trotzdem ist „Mindset“ immer wieder auch sehr, sehr lustig.

Ministerium der Träume

von Hengameh Yaghoobifarah, Blumenbar

Hengameh Yaghoobifarah hat viele Jahre in der taz die vielbeachtete Kolumne „Habibitus“ geschrieben und mit Fatma Aydemir das Buch „Eure…

Hengameh Yaghoobifarah hat viele Jahre in der taz die vielbeachtete Kolumne „Habibitus“ geschrieben und mit Fatma Aydemir das Buch „Eure Heimat ist unser Albtraum“ herausgegeben – und vor einiger Zeit den hochgelobten Roman „Ministerium der Träume“ veröffentlicht: Es geht um die Türsteherin Nasrin, die eines Morgens erfährt, dass ihre Schwester Nushin bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Sie zieht zu Nushins pubertierender Tochter Parvin – und glaubt nicht an einen Unfall. Sie will Gewissheit, weshalb sie mit intensiven Recherchen anfängt. Dabei stellt sie fest, dass ihre geliebte Schwester, die so gut zu kennen glaubte, schon lange ein Leben führte, dessen Details sie jetzt überraschen. Hatte Nushin doch wieder mit der Sexarbeit angefangen? Warum hatte sie zu alten Freunden und Lovern gehalten, Kontakte, von denen Nas nichts wusste? Nas und ihre Nichte unterstellen sich zugleich gegenseitig, Dinge über die tote Schwester und Mutter zu verheimlichen, was zu Spannungen führt. Erst nach und nach offenbart sich Nas die ganze Geschichte. Ihre Schwester scheint Teil einer radikalen politischen Aktion gewesen zu sein – und eine Gefahr bekämpft zu haben, die sie alle betrifft. Es geht um Rassismus, rechte Gewalt und Sexismus, um Missbrauch und Traumatisierungen. Der Roman leuchtet Ecken aus, die viele nicht kennen und viele nicht alle sehen wollen. Vor allem aber geht es um Liebe und Solidarität, um eine große Geschwisterliebe und die Frage, wo man zuhause ist, wenn das kein Ort sein kann. Und das alles in einer sehr gelungenen Mischung aus Straßen- und Szeneslang und poetischer Sprache. Empfehlenswert!

Monstergott

von Caroline Schmitt, Ullstein

In eine sehr nahe und zugleich sehr fremde, exotisch anmutende Welt führte uns Caroline Schmitt mit einem Auszug aus ihrem…

In eine sehr nahe und zugleich sehr fremde, exotisch anmutende Welt führte uns Caroline Schmitt mit einem Auszug aus ihrem neuen Roman „Monstergott“, dem zweiten Buch der freien Journalistin (Deutschlandfunk Kultur + Deutsche Welle) nach „Liebewesen“: Die Geschwister Ben und Esther sind engagierte Mitglieder einer evangelikalen Gemeinde, in der alle ein gottgerechtes Leben führen wollen. Die Gemeinde ist alles, es gibt kaum noch ein Außen. Esther sieht die Zwänge zunehmend kritisch, vor allem, seitdem Paul, in den sie verliebt war, sie und die Gemeinde plötzlich verlassen hat. Ben träumt immer noch von seinem alten Freund Noah und hadert mit sich selbst, weil er weiß, dass seine Gefühle für das eigene Geschlecht in der Gemeinde niemals akzeptiert würden, weshalb er gegen sie wider besseres Wissen ankämpft mit seltsamen Seminaren und Ritualen – die natürlich nichts bringen. Irgendwann merkt Esther, was für eine verlogene Rolle der nur scheinbar fürsorgliche Pastor der Gemeinde eigentlich spielt. Die beschriebene Welt des starken Glaubens, der zur Erlösung führen soll, wirkt auf den ersten Blick befremdlich, trotzdem sind uns die Protagonisten nah, denn sie suchen wie wir vielleicht alle nach Wahrheit und Sinn, nach Liebe und Nähe und Halt in einer Gemeinschaft, die aber zum Knast wird. Sie verzweifeln an der ungerechten Welt und zunehmend auch an ihrem Umfeld, aus dem sie sich befreien, in einem schmerzhaften Prozess, den Caroline Schmitt packend erzählt. Fesselnd!

Motörhead

von Charly Hübner, KiWi

Charly Hübner ist nicht nur einer der herausragendsten Schauspieler des Landes, der zudem mit der kongenialen Verfilmung des Thees Uhlmann…

Charly Hübner ist nicht nur einer der herausragendsten Schauspieler des Landes, der zudem mit der kongenialen Verfilmung des Thees Uhlmann Romans „Sophia, der Tod und ich“ sein sehr erfolgreiches Debüt als Spielfilmregisseur in die Kinos gebracht hat, sondern er ist auch ein absoluter leidenschaftlicher Musikfan. Er hat eine Doku über Feine Sahne Fischfilet gedreht, arbeitet an einer über Element of Crime, taucht in einem Video der Toten Hosen auf und hat ein ganz wunderbares Buch über Motörhead geschrieben, die Band, die sozusagen in jungen Jahren sein Leben gerettet und verändert hat und die ihn heute noch vor Dreharbeiten auf die richtige Betriebstemperatur bringt (etwa mit dem Song „Overkill“). Im Buch trifft er am Teufelsstein im Süden Mecklenburgs den Teufel, der ihn mit auf eine Zeitreise nimmt, auf der seine Leidenschaft für Lemmy & Co ergründet werden soll. Wir verstehen, wie das hibbelige Kind diese „lauteste Band der Welt“ als Erlösung begrüßt, weil sie die Energie bündelt und mit ihrem Lärm die kalte Welt auf Abstand hält. Es ist, wie Lemmy einst postulierte: Mit der Musik Teil der Welt werden, aber immer auch draußen bleiben! Sie ist ein Ventil für die Wut, das Unverständnis, die Ratlosigkeit und die Angst in den Jahren als Jugendlicher – und auch danach. Es geht um die Befreiung, Emanzipation und Identitätsfindung durch Musik. In Wacken sieht er Lemmy 2013 einmal kurz auf der Bühne, wenig später ist der Frontmann tot. Aber dafür gibt es ja die Literatur, und so trifft der Autor dank des Teufels Lemmy im Buch endlich zu einem langen Gespräch und ein paar „Jack und Coke“. Das kleine Büchlein ist eine sehr gelungene, anrührende Mischung aus einer großen Liebeserklärung an „Motörhead“ und einer wunderbaren literarischen Biographie.

MTTR

von Julia Friese, Wallstein

Fasziniert verfolgten die Gäste im vollen Lesesaal dem energiegeladenen Vortrag von Julia Friese, die in ihrem Debütroman „MTTR“ ihre schwangere…

Fasziniert verfolgten die Gäste im vollen Lesesaal dem energiegeladenen Vortrag von Julia Friese, die in ihrem Debütroman „MTTR“ ihre schwangere Protagonistin Teresa Borsig einem nicht enden wollenden Trommelfeuer aus Zumutungen aussetzt. Der Autorin gelingt es mit ihrer extrem schnellen, direkten, pulsierenden Sprache eindrucksvoll, den Druck, der auf der Protagonistin lastet, für die Leser kongenial zu übersetzen. „MTTR“ ist übrigens ein technischer Fachbegriff („Mean Time To Repair“), der die mittlere Reparaturzeit für ein kaputtes System bezeichnet. Und kaputt ist hier fast alles. Teresa will eigentlich kein Kind, vor allem, weil sie Angst hat, so zu werden wie ihre empathielosen, von äußeren Zwängen und unhinterfragten Konventionen getriebenen und verkorksten Boomereltern. Sie will alles richtig machen. Und wenn Erinnerungen an ihre eigene Kindheit aufflackern, geht es meist um Gefühlslosigkeit, Distanz und sogar Schläge. Selbst bei kürzesten Treffen schaffen die Eltern es meisterlich, die Stimmung durch Gängelung, Besserwisserei und Gedankenlosigkeit unter den Nullpunkt zu jagen. Als sich Teresa entschließt, das Kind trotzdem zu bekommen, erlebt sie die Institutionen und Menschen, die sie dabei aufsuchen muss – Krankenhäuser, Ärztinnen, Ämter, Beamte – als eine Verlängerung der Elternwelt, die hauptsächlich aus Boshaftigkeiten, Aggressionen, Bevormundungen und Kälte zu bestehen scheint. Es kommt ihr vor, als ob das ganze Land noch von einem kaputten Nachkriegsgeist beherrscht sei, überall prallt sie vor die unsichtbaren Mauern aus traditionellen Lebensentwürfen und überholten Konventionen – aber davon lässt sie sich nicht aufhalten. Ihr Kampf um Selbstbehauptung und Emanzipation lässt niemanden kalt.

Natürlich kann man hier nicht leben

von Özge Inan, Piper

Özge Inan führt uns mit ihrem Roman „Natürlich kann man hier nicht leben“ tief in den schwierigen Alltag der Türkei…

Özge Inan führt uns mit ihrem Roman „Natürlich kann man hier nicht leben“ tief in den schwierigen Alltag der Türkei vor allem in den 80er, 90er Jahren. Die in Deutschland geborene Nilay, Tochter türkischer Eltern, sieht im Fernsehen 2013 die Proteste im Istanbuler Gezi Park, ein Gefühl von Revolution liegt in der Luft, sie will sofort hin, mitmischen, zum Flughafen. Ihr Bruder Emre winkt ab, sie solle sich beruhigen, sie sei von hier (Deutschland), nicht von da (Türkei). Aber davon will sie nichts wissen. Der Roman führt uns dann in die 80er Jahre, wir lernen die damals noch jungen Eltern kennen, den Vater Selim und die spätere Mutter Hülya. Bei sind politisch aktiv und erleben, wie der türkischen Zivilgesellschaft nach dem Putsch von 1980 langsam die Luft abgeschnürt wird. Einerseits werden tausende kurdische Dörfer zwangswese geräumt, andererseits beschneiden die Militärs immer stärker den Handlungsspielraum von Opposition, Gewerkschaften, Studenten, Medien. Als Selim in einer Redaktionskonferenz ein aus Militärsicht heikles Thema vorschlägt, verrät ihn ein Kollege. Es drohen 5 Jahre Haft. Hülya ist schwanger. Sie wollen heiraten. Aber mit diesen Zukunftsaussichten? Wir erleben hautnah, was es heißt, unter Diktaturbedingungen die eigene Machtlosigkeit zu erfahren. Es geht um Solidarität und Freundschaft, um Angst und Verrat, um Liebe und Fluchtgedanken – denn will man so leben, selbst wenn man sein Land liebt? Spannend!

Nochmal Deutschboden

von Moritz von Uslar, Kiepenheuer & Witsch

Moritz von Uslar liest beim Writers‘ Thursday aus seinem aktuellen Buch „Nochmal Deutschboden“: Zehn Jahre nach seiner „teilnehmenden Beobachtung“ in…

Moritz von Uslar liest beim Writers‘ Thursday aus seinem aktuellen Buch „Nochmal Deutschboden“: Zehn Jahre nach seiner „teilnehmenden Beobachtung“ in der Kleinstadt Zehdenick in der brandenburgischen Provinz kehrt er zurück und will von allen wissen, was sich verändert hat, wer sich wie verändert hat – und warum. Wie war das, wie ist das hier mit den Rechten, mit dem Rassismus, der AfD? Mit der Langeweile und dem Alkohol? Er redet mit früheren Schlägern und Opfern, mit rechten und linken Skinheads, mit Flüchtlingen und den ganz normalen Tresenhockern und Trinkern in seiner Lieblingskneipe. Und legt dabei sozusagen die ganze (ost-) deutsche Provinz auf den Seziertisch.

Nullerjahre

von Hendrik Bolz, Kiepenheuer & Witsch

Beim Writers´ Thursday lieben wir coole Bücher und Musik – und schreibende Musiker (gelesen haben hier schon: Flake, Sven Regener,…

Beim Writers´ Thursday lieben wir coole Bücher und Musik – und schreibende Musiker (gelesen haben hier schon: Flake, Sven Regener, Lady Bitch Ray, Westbam, Alexander Hacke, Inga Humpe, Tobias Bamborschke, Dirk von Lowtzow u.v.m.). Diesmal hatten wir Hendrik Bolz mit seinem grandiosen Debüt „Nullerjahre“ zu Gast, der vielen als „Testo“ und damit als eine Hälfte des Rap-Duos „Zugezogen Maskulin“ bekannt sein dürfte. „Nullerjahre“ ist harter Stoff aus Stralsund. Da wuchs Hendrik auf, der Ende der 80er Jahre geboren wurde. In den Plattenbauten des Viertel Knieper West sind die Erwachsenen seit der Wende desillusioniert, auf den Straßen herrscht für die Jugendlichen Krieg. Die „Baseballschlägerjahre“ der 90er mögen „offiziell“ vorbei sein, die Gewalt ist es nicht – statt Böhze Onkels dröhnt nur Aggro Berlin aus den Boxen. Bolz beschreibt eine grausam archaische Welt, in der Rassismus, Antisemitismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit das Grundrauschen liefern (weswegen am Anfang des Buches eine Warnung vor expliziter Sprache steht, die tatsächlich angebracht ist) und Hakenkreuze und Schläger-Nazis im brutalen Alltag integriert sind. Der Erzähler versucht, in dieser feindlichen Welt so gut es geht zu leben und überleben, beschreibt eindringlich, wie der Terror des „Blickgeficke“ („Was guckst du so?“) und der Ekel vor der eigenen Schwäche, das Gefühl der Angst und Demütigung zu unfassbarer Ohnmacht und Wut führt. Und aus Opfern manchmal auch Täter macht. Bolz schreibt gnadenlos über sich selbst: “Ich habe gedemütigt, ich habe zugeschlagen. Das war kein schlimmer Traum, kein finsteres Märchen, das war ich.“ Das Buch mit seinem knallharten Beat ist ein erzählerisches Meisterstück, das Einblicke in eine Welt gibt, die viele lieber nicht wahrnehmen wollten und wollen und beim Lesen nicht nur bei denen zu Schweißausbrüchen führt, die Straßengewalt aus eigener Erfahrung kennen.

O Brother

von John Niven, btb

Der Schriftsteller John Niven schreibt schonungslos über die größte Tragödie seines Lebens - den Selbstmord seines Bruders und die Frage: Hätte er ihn retten können?

Der schottische Bestsellerautor John Niven – vielen vor allem durch seinen internationalen Erfolg „Kill Your Friends“ ein Begriff – kam extra für diesen Abend aus London, um „O Brother“ vor dem Erscheinen in Deutschland beim Writers´ Thursday zu präsentieren. In England ist das Werk ein Sunday-Times-Top-Ten-Bestseller. Es ist ein Memoir, das persönlichste, das härteste und bewegendste Buch, das Niven geschrieben hat. Es geht um eine große Tragödie, um seinen Bruder Gary, der 2010 im Alter von 42 Jahren an den Folgen eines Selbstmordversuches starb. Zu dem Zeitpunkt litt er an chronischen Höllenkopfschmerzen, Höllenschulden und lebte ein Höllenleben, das von Alkohol, Drogen und Knast bestimmt worden war. Niven untersucht in seinem Buch, wie zwei Brüder aus einer einfachen Arbeiterfamilie, die unter gleichen Bedingungen aufgewachsen sind, so verschiedene Leben führen konnten. Wie konnte aus dem lustigen, agilen, sensiblen Gary der harte Typ werden, der abgezockte Drogendealer, der für eine alberne Ganovenehre drei Jahre im schlimmsten Knast Schottlands verbrachte? Es geht um ein Aufwachsen in der schottischen Provinz, um die Bedeutung von Punk, Rave und Drogen – das Buch ist eine rasante Schussfahrt durch das englische Nachtleben und eine schonungslose Aufarbeitung der Frage: Hätte John Niven seinen Bruder retten können? Wo war er zu träge, zu faul, zu desinteressiert an dessen Schicksal? Er geht brutalst mit sich ins Gericht. Es gibt Stellen, die man kaum erträgt, etwa, wo er darüber sinniert, ob es nicht vielleicht besser für alle sei – für Gary selbst und alle in seiner Umgebung –, dass der Bruder tot ist. Es geht um Fragen, die nie beantwortet werden können und alle, die weiterleben, ein Leben lang verfolgen. Denn, so Niven: „Selbstmord ist das Tschernobyl der Seele, seine zerstörerische Kraft hört nie auf!“ Erschütternd.

Palo Santo

von Sascha Ehlert, Ullstein

Sascha Ehlert hat das wunderbare Magazin für Text & Musik – „Das Wetter“ – gegründet und war einer der Mitgründer…

Sascha Ehlert hat das wunderbare Magazin für Text & Musik – „Das Wetter“ – gegründet und war einer der Mitgründer des kleinen, feinen Korbinian Verlags, bei dem etwa Paulina Czienskowski, Jovana Reisinger oder Olga Hohmann Bücher herausgebracht haben. Bei uns hat er aus seinem Debütroman „Palo Santo“ gelesen. Es geht um die beiden Kreativen Golo und Hedi, die im Berlin der Gegenwart leben, aber eigentlich dringend wegwollen. Sie stört der Rechtsruck, der Antisemitismus, die Enge, die Erstarrung. Sie träumen von Kalifornien, genauer: von L.A. Dorthin floh auch einst Samuel Wilder, der aus Galizien nach Berlin gekommen war, aber wegen der Nazis 1934 nach Hollywood zog, um dort Drehbuchautor zu werden. Golo ist ein Bewunderer des Filmemachers und folgt seinen Spuren in L.A., zunächst ohne Hedi. Er will eine Biografie über Wilder schreiben oder einen Dokumentarfilm drehen. Auf einer anderen Erzählebene folgen wir Billy Wilder in seiner Zeit. Irgendwann aber zerfließen die Zeitebenen und die historische Figur wird ein realer Protagonist, der mit Golo und Hedi interagiert. Ist das ein Wunschdenken, ein Fiebertraum, eine Hyperrealität? Welcher Filmemacher spielt da im Garten Tischtennis des Chateau Marmont Tischtennis mit Golo? Es geht um grundsätzliche Fragen, um Pop und Politik, um die Kraft der Oberflächen, um den Umgang der Deutschen mit ihrer Nazi-Vergangenheit, die Möglichkeit des Widerstands und die Frage, ob man mit einer besseren Ästhetik das Schlechte in der Welt bekämpfen kann. Faszinierend!

Panikherz

von Benjamin von Stuckrad-Barre, Kiepenheuer & Witsch

Für den Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre war Pop immer schon ein Hebel zur Weltbefragung, zur Ortsbestimmung, zu Orientierung in guten…

Für den Schriftsteller Benjamin von Stuckrad-Barre war Pop immer schon ein Hebel zur Weltbefragung, zur Ortsbestimmung, zu Orientierung in guten wie in unübersichtlichen Zeiten. In der autobiografischen Erzählung „Panikherz“ führt er uns an die Wurzeln dieser Leidenschaft und lässt er uns teilhaben an ihrer Entwicklung und Ausdifferenzierung in allen Lebenslagen. Und an seiner großen Zuneigung zu Udo Lindenberg, seinem Freund, seinem Lebensbegleiter, Lebensretter und Lebensmenschen. Im strengen Pastoren-Elternhaus sind Pop und Spaß keine relevanten Kategorien, das Leben ist ernst, die Musik ist ernst, die Texte sind ernst, gerne aus der Bibel, mahnend und ehrfurchtsvoll vorgetragen. Früh ist da das Gefühl die Gewissheit: Es muss noch eine andere, aufregendere Welt geben, irgendwo. Und dann gibt es ein literarisches Erschütterungs- und Erweckungserlebnis der besonderen Art: Die Texte Udo Lindenbergs, erstmals gehört, sind ein sofortiges Aufbruchssignal, die Bestätigung, dass hinter dem Familienhorizont noch andere Universen warten. Das Ziel ist klar und wird konsequent verfolgt: Dahin, wo die Musik spielt. In die Konzerte, in die Medien, zu den Künstlern. Alles, was den Blick erweitert, wird euphorisch begrüßt und umarmt. Alles muss erforscht werden, bis an die eigenen Grenzen und dann immer öfter auch gerne darüber hinaus. Die Macht der Nacht packt und verschlingt ihn lustvoll und schmerzhaft, irgendwann gibt es kein Halten mehr: Drogen, mehr Drogen, Süchte, Entziehungskuren, Rückfälle, Verlorenheit, Depressionen, monumentale Selbstzweifel und absurder Größenwahn, hemmungslose Selbstzerstörung – und dann, wenn alles zusammenzubrechen scheint: Udo. Immer wieder Udo, Udo der Weltgelehrte, der nicht moralisiert, nicht belehrt, der einfach da ist, besorgt und fürsorglich, mit praktischen Tipps und konkreten Angeboten. Benjamin von Stuckrad-Barre hat ein schonungslose, ein zartes, eine hartes, ein mitreißendes und immer wieder auch sehr lustiges Buch geschrieben, das mit seinen schönsten Triumphen und brutalsten Abstürzen, dem blanken Elend und den Glücksmomenten niemand kalt lassen kann. Es geht um Freundschaft und Schmerzen, um Optimismus und Depressionen, um das ganze Leben und daher immer wieder auch natürlich um: Musik. Ein grandioses Stück Literatur.

Patti Smith

von Helene Hegemann, KiWi

Helene Hegemann hat beim Writers´ Thursday aus ihrem neuen, bisher unveröffentlichten Buch „Patti Smith“ gelesen, das Anfang Oktober erscheint. Wobei…

Helene Hegemann hat beim Writers´ Thursday aus ihrem neuen, bisher unveröffentlichten Buch „Patti Smith“ gelesen, das Anfang Oktober erscheint. Wobei der Titel „Patti Smith“ die literarische Untertreibung des Jahres sein dürfte. Denn das ist nicht einfach nur ein extrem scharfsinniger Text über die weltbekannte Musikerin, Poetin, Autorin, Künstlerin, die, wie es an einer Stelle heißt, phasenweise leider auch als das „spirituelle Maskottchen der Hochkultur“ dient und die sie einst unverhofft und zunächst unerkannt in jungen Jahren einmal Backstage getroffen hat, sondern es ist vor allem auch ein Buch über Christoph Schlingensief, der ihr in einer ersten Begegnung als Jugendliche wie eine „Mischung aus Jesus und Ruhrpott Hausmeister“ erschien, über seine unkonventionelle, extrem inspirierende Haltung zum Leben und zur Kunst – und wie gerade auch diese Haltung Helene Hegemann geholfen hat, aus einer tiefen Krise ins Leben zurückzufinden. „Patti Smith“ ist ein furioser, mitreißender, bewegender und abschnittsweise mal sehr analytischer, mal sehr persönlicher Text über zwei ganz besondere Künstler und Menschen, über die Kraft der Kunst und die überlebenswichtige und richtige Haltung zum Leben. Wer danach nicht sofort Musik von Patti Smith hören und alle Videos und Filme und Stücke von und mit Christoph Schlingensief studieren will, dem oder der ist dann auch nicht mehr zu helfen.

Pleasure

von Jovana Reisinger, Park x Ullstein

Jovana Reisinger, die hochgelobte Filmemacherin, Autorin, Künstlerin, neuerdings auch Schauspielerin, hat nach „Enjoy Schatz“ und „Spitzenreiterinnen“ mit „Pleasure“ ein radikales,…

Jovana Reisinger, die hochgelobte Filmemacherin, Autorin, Künstlerin, neuerdings auch Schauspielerin, hat nach „Enjoy Schatz“ und „Spitzenreiterinnen“ mit „Pleasure“ ein radikales, fulminantes Manifest für Völlerei, Rumliegen, Glamour, Trash und Kitsch geschrieben. Und einen Lobgesang auf die subversive Kraft der Tussi, die mit ihrer Vorliebe für „zu viel“ Pink, Strass und extravagante Gel-Fingernägel die sich selbst als kultivierter und arrivierter betrachtenden Kreise aufschreckt und diese immer wieder selbstbewusst an ihre Toleranzgrenzen und gerne auch darüber hinaus stößt. „Pleasure“, das ist für Reisinger die bedingungslose Hingabe an die Gegenwart, an den Genuss, an die totale Bedürfnisbefriedigung, an unverhohlene Geilheit – und  freudig begrüßte Exzesse. Pleasure kann in der richtigen Umgebung auch ein politischer Akt des Widerstandes sein, gegen ausbeuterische Arbeitssysteme, gegen normative Lebensvorstellungen, gegen ödeste Spießigkeit und Kontrollwut. So dekliniert die Autorin ihr Recht auf verschwenderische Fülle durch die Lebensbereiche Kleidung, Schlafen und Essen durch und erinnert immer wieder daran, dass es sich hierbei auch um die Schilderung eines „Klassenaufstiegs“ handelt, denn am Anfang der Überlegungen steht ein Vorgang, der demütigen sollte, sie aber nur um so mehr befeuerte. Beim Filmfest in München fragte eine Dame der Gesellschaft, ,die ihre Sexyness, ihren Glamour, ihren Style nicht ertrug, bei ihrem Anblick laut und deutlich: „Was macht denn das Unterschichtkind hier auf dem Roten Teppich?“ Diese Dame sollte „Pleasure“ lesen, dann kennt sie die Antwort genauer, als ihr vielleicht jemals lieb sein könnte. Und warum das „Unterschichtenkind“ überhaupt auf den roten Teppich wollte, erzählt Reisinger ganz zart und eindrucksvoll auf den ersten Seiten, wo sie eine Szene aus dem Wirtshaus ihrer Eltern beschreibt, wo die Haushaltshilfe Charlotte ihr am Tag einer Sonnenfinsternis ein für alle Mal klar machte, wie sie, die Tochter der Gastronomen, NIEMALS leben wollte. Ein starkes, kämpferisches Buch.

Pudels Kern

von Rocko Schamoni, hanserblau

Der Kampf des jungen Künstlers aus dem Ostseedorf, in Hamburg eine eigene künstlerische Identität aufzubauen, hin- und hergerissen zwischen Abstürzen, Höhepunkten und schwärzesten Depressionen. Eine rasante Schussfahrt durch die Nacht.

Das legendäre Multitalent Rocko Schamoni las beim Writers´ Thursday aus seinem brandaktuellen Werk „Pudels Kern“, das erst im April offiziell erscheinen wird. Es geht um die Zeit Ende der 80er, Anfang der 90er in Hamburg. Ein junger Mann aus einem Ostseedorf (den manche noch aus seinem grandiosen Bestseller-Debüt „Dorfpunks“ kennen) hat die Lehre als Keramiker beendet und stürzt sich in das Szeneleben Hamburgs. Eben noch ehrfürchtig die Hardcorepunker der Gruppe Slime gehört, jetzt steht er plötzlich neben den Musikern in der Kneipe. Tagsüber arbeitet er als Zivildienstleistender beim Hamburger Spastikerverein, nachts zieht er durch die Gemeinde. Er sucht seine Rolle als Musiker und im Leben wie ein manisch Getriebener, hin und her gerissen zwischen zwei Polen: Einerseits will er das Sein erkunden, Erkenntnis und Sinn finden, andererseits geht es um Action, Ablenkung, Abfahrt, Irrsinn. Er, der „in der Familie schon früh kein Zuhause mehr gesehen“ hat, weiß nie: „Bin ich eigentlich auf der Flucht oder auf der Jagd?“ Er geht bald schon auf Tour mit den Toten Hosen und den Goldenen Zitronen, er soll zum Bravo-Star aufgebaut werden, was nicht sein Ding ist, es ist ein Leben mit, in und durch die Kunst. Er erlebt unfassbare Abstürze, erbarmungslose Kater, schlimmste Depressionen und fällt nach Höhepunkten in tiefste seelische Löcher, in denen er nichts mehr spürt und sieht außer Selbstverachtung und Hoffnungslosigkeit. Wir erleben einen Helden, der einerseits die totale Freiheit genießt und andererseits an der totalen Haltlosigkeit leidet. Das Buch ist eine äußerst rasante, faszinierende und mit allen Dramen eine oft auch sehr lustige Schussfahrt durch das irre Nacht- und Künstlerleben, von der man gar nicht genug bekommen kann.