Buchtipps

Buchempfehlungen von Rainer Schmidt (in alphabetischer Reihenfolge der Buchtitel)

Technophoria

von Niklas Maak, Hanser

Noch ein Blick zurück in die ganz nahe Vergangenheit, als auch Fremde noch ohne Abstand und Mundschutz miteinander reden konnten:…

Noch ein Blick zurück in die ganz nahe Vergangenheit, als auch Fremde noch ohne Abstand und Mundschutz miteinander reden konnten: Autor Niklas Maak (ganz links) nach seiner Lesung beim Writers´ Thursday im März im 1. OG des Borchardt im Gespräch mit einer Besucherin am Tisch unserer Lieblingsbuchhandlung Hundt Hammer Stein. Niklas Maak hat sich als Journalist schon immer für Smart Citys, menschenähnliche Roboter und gigantische Serverfarmen und selbstfahrende Autos interessiert. In seinem Roman „Technophoria“ zeigt er uns eine Welt, die sehr futuristisch anmutet, aber doch gar nicht so weit von unserer entfernt ist, denn die Zukunft hat schon begonnen. Es geht um das Verhältnis von Menschen zu Maschinen, von Menschen zu ihrer Welt, von den Möglichkeiten und Abgründen, die uns die neuen Techniken bieten – und alte Begierden, die durch keine Technik aus der Welt geschaffen werden können.

Tot oder lebendig

von Ariana Zustra, Frankfurter Verlagsanstalt

Die junge Anna, die mit ihrer Identität und ihrem Leben hadert, erfährt, dass sie die Reinkarnation eines kroatischen Juden aus Dubrovnik sein soll. Dem geht sie sofort nach. Denn wer kann man sein, wenn man nicht weiß, wer man ist?

Wir lieben schreibende Musiker:innen und musizierende Autor:innen, vor allem, wenn wir beim Writers´ Thursday neben den Texten auch noch einen kleinen Gig bekommen. Das war der Fall am vergangenen Donnerstag, als uns Ariana Zustra bzw. ihr Projekt „Zustra“ mit Schlagzeuger Danny Weber zwei Stücke mitbrachte, die sie live performte und mit ihrer beeindruckenden Stimme und dem sphärischen Sound den ganzen Saal verzauberte. Ihre neue Single „River“ kommt übrigens am 21. März heraus, das zweite Album im Sommer. Davor entführte Ariana uns mit einem Auszug aus ihrem Debütroman „Tot oder lebendig“ nach Dubrovnik, wo ihre ostdeutsche Heldin Anna Thurow nach ihrer Identität und einem Menschen namens Andri sucht. Einst wollte sie Astronautin werden, endete aber in einem simplen Bürojob. Sie ist unzufrieden mit ihrem Leben, mit ihrem Körper, dem – so denkt sie manchmal – ein Penis zu fehlen scheint. Unter Hypnose erfährt sie einen möglichen Grund für ihr Unwohlsein: Sie sei die Reinkarnation eines Juden aus Ragusa, dem heutigen Dubrovnik. Klingt verrückt, aber nicht aber für Anna, die in Kroatien nach Spuren eben dieses Mannes sucht und dabei auf die alte Anka trifft, die einiges über Andri zu wissen scheint. Bei der Suche nach Spuren dieses geheimnisvollen Menschen – und damit in gewisser Weise ja nach ihrem eigenen Vorleben –, stößt sie auf immer mehr Geschichte und Geschichten aus der Nazizeit, auf Verbrechen der deutschen Besatzer, aber erfährt auch von Verbrechen der Partisanen und Kommunisten nach dem Abzug der Deutschen. Da gibt es Inseln, die nicht betreten werden sollen und Häuser auf diesen Flecken, über die man lieber nicht redet. Es geht um Identitätssuche, um Herkunft, um Sehnsucht und Begierde, um eine Leere, die gefüllt werden will – und um die grundsätzliche Frage, wer wir sein können, wenn wir nicht wissen, wer wir sind? Beeindruckend.

Triskele

von Miku Sophie Kühmel, S. Fischer

Mit ihrem Debüt „Kintsugi“ sprang Autorin Miku Sophie Kühmel 2019 gleich auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis und gewann…

Mit ihrem Debüt „Kintsugi“ sprang Autorin Miku Sophie Kühmel 2019 gleich auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis und gewann sowohl den aspekte-Literaturpreis wie auch den Literaturpreis der „Jürgen Ponto Stiftung“. Damals stand ein Männerpaar im Mittelpunkt, ihr neues Werk „Triskele“ dreht sich um das Verhältnis von drei Schwestern, die jeweils 16 Jahre auseinander liegen, alle dieselbe Mutter, aber unterschiedliche Väter haben. (Unter eine „Triskele“ versteht ein Schmuckstück aus drei miteinander verschlungenen und doch auseinanderstrebenden Spiralen.) Die depressive und immer als eher kalt wahrgenommene Mutter ist sehr selbstbestimmt aus dem Leben geschieden, Mercedes, Mira und Matea kommen im Pandemiejahr 2020 zusammen, um die Wohnung der Mutter in ihrem Heimatstädtchen in Sachsen-Anhalt zu räumen. Die jüngste Schwester – Matea – muss nach Berlin zu Mercedes ziehen, der Ältesten, die Kinder eigentlich nicht leiden kann und früher schon früh, wohl: zu früh, Verantwortung für die mittlere Schwester Mira hatte übernehmen müssen, weil die stets alleinerziehende und labile Mutter überfordert war. Mercedes, die, im Gegensatz zu ihren Schwestern, noch sehr bewusst die DDR erlebt hat, war immer die Zielstrebigste und Organisierteste, ist aber gerade entlassen worden, Mira galt als orientierungslos und verdient Geld als Sportlehrerin, Matea fühlt sich vor allem in der digitalen Welt zu Hause. Die 3er-Konstellation ist für alle anfangs ungewohnt, sie fremdeln, die Beziehungen sind kompliziert und teilweise verklemmt. Miku Sophie Kühmel lässt uns den Schwestern- und Generationenkonflikt abwechselnd jeweils durch die Augen der drei Frauen erleben, die, jede für sich und dann irgendwie auch alle zusammen, nach dem richtigen Leben suchen und der Wahrheit in der erinnerten Vergangenheit. Ihr ist ein zartes, fragendes, zweifelndes, sehnsüchtiges Buch gelungen, das niemanden kalt lässt.

Unheimlich nah

von Johann Scheerer, Piper

Der Hamburger Tonstudiobetreiber (Clouds Hill Studios), Labelbesitzer, Musiker, Autor und (an diesem Abend) Co-Gastgeber des Writers´ Thursday in Hamburg, Johann…

Der Hamburger Tonstudiobetreiber (Clouds Hill Studios), Labelbesitzer, Musiker, Autor und (an diesem Abend) Co-Gastgeber des Writers´ Thursday in Hamburg, Johann Scheerer, las nicht nur aus seinem zweiten autofiktionalen Roman „Unheimlich nah“, sondern griff auch gleich zur Gitarre und sang seinen wunderbaren Song „Sag Mal Johann“. In „Unheimlich nah“ berichtet der Erzähler vom Leben unter einem Sicherheitsschirm, der nach der beendeten Entführung seines Vaters für nötig gehalten wird, weil man ein Folgeverbrechen befürchtet. Das Buch ist praktisch die Fortsetzung seines bemerkenswerten Debütwerkes „Wir sind dann wohl die Angehörigen“. Es geht um das Leben nach dem großen Schock, wie das überwältigende Bedürfnis der Eltern nach Sicherheit das Leben des Heranwachsenden dominiert. Was immer er macht, wo immer er hin will, wen immer er trifft – ob auf dem Weg zur Schule, abends zur Party, beim Spaziergang mit einer potentiellen Freundin – immer sind da die Sicherheits-Menschen, die ihm scheinbar unauffällig folgen. Sie sind ihm „unheimlich nah“. Was macht das mit einem, wenn man niemals wirklich alleine ist, wenn überall Gefahr gewittert wird? Was für Beziehungen sind dann noch möglich, was für eine Freiheit, wie viel Punk – bei so einer Kontrolle? Mit Lügen, Halbwahrheiten und Notlügen versucht der Erzähler immer wieder, dem System zu entkommen. Der Ausnahmezustand ist seine Normalität. Ein Text, der berührt und unter die Haut geht.

Unsterblich sind nur die anderen

von Simone Buchholz, Suhrkamp

Ganz exklusiv las Simone Buchholz in Hamburg beim Writers` Thursday aus ihrem noch nicht erschienenen neuen Buch „Unsterblich sind nur…

Ganz exklusiv las Simone Buchholz in Hamburg beim Writers` Thursday aus ihrem noch nicht erschienenen neuen Buch „Unsterblich sind nur die anderen”, wobei man automatisch „Krimi“ sagen möchte, weil Simone als preisgekrönte Krimiautorin bekannt ist (u.a. ausgezeichnet mit dem renommierten britischen Dagger Award, dazu Deutscher Krimipreis, etc. pp.), aber dieses irre Buch ist so viel mehr: Seit fünf Wochen sind Tarik, Moritz und Flavio unterwegs, seit zwei Wochen melden sie sich nicht mehr. Malin und Iva suchen nach den Jungs und nehmen die Fähre von Dänemark nach Island. Von Anfang an herrscht eine seltsame Stimmung: Das Hotel, in dem sie vor der Fährfahrt übernachten, scheint am nächsten Morgen verschwunden. Die Crew sieht alterslos überirdisch gut aus, der Kapitän ist unfassbar attraktiv, aber von einem Geheimnis umgeben – und warum scheint die Barfrau bei jeder Umdrehung komplett anders auszusehen? Weshalb hocken die drei gesuchten Jungs zufrieden auf dem Schiff als sei nichts geschehen? Wer segelt da mit wem unter Deck? Bald wollen auch Malin und Iva nicht mehr weg, jedoch zerrt an Iva der Gedanke an ihr zurückgelassenes Kind… Es geht um Freundschaft und große Gefühle, um Sinn und die Verlockungen der Unendlichkeit, um den Preis der Freiheit – und den Preis der Liebe. Das ist geheimnisvoll, spannend, mysteriös, verwirrend, immer fesselnd, ein durchgeknalltes Buch wie auf Droge – ganz ohne Kriminalfall

Vatermal

von Necati Öziri, Ullstein

Der in Recklinghausen geborene Necati Öziri – unter anderem Theaterautor beim Maxim-Gorki-Theater, Nationaltheater Mannheim und Schauspielhaus Zürich – hat es…

Der in Recklinghausen geborene Necati Öziri – unter anderem Theaterautor beim Maxim-Gorki-Theater, Nationaltheater Mannheim und Schauspielhaus Zürich – hat es mit seinem sensationellen Debütroman „Vatermal“ gleich auf die Shortlist für den Buchpreis geschafft, und das völlig zu Recht: Arda Kaya ist Anfang zwanzig, er liegt in Deutschland im Krankenhaus und weiß, er wird bald an multiplen Organversagen sterben. Deswegen schreibt er an seinen abwesenden Vater Melin einen Brief. Melin hat die Familie vor langer Zeit ohne Ansage Richtung Türkei verlassen. Und das, obwohl dort ein Haftbefehl auf ihn wartete, weil er als Mitglied der linksradikalen Gruppe Dev Sol an einem Mord beteiligt gewesen sein soll. Er ging ohne Begründung und hat sich nie wieder gemeldet. Die Mutter Ümran, deren Ersparnisse Melin verspielt hatte, wird alkoholkrank und versucht, mit Jobs bei McDonald´s die Familie zu ernähren. Ümran und Ardas Schwester Aylin streiten sich, bis diese flieht und freiwillig zu einer deutschen Pflegefamilie geht. Arda hat keinen Pass und muss unzählige demütigende Besuche auf dem Ausländeramt ertragen. In seiner Freizeit hängt er auf dem Bahnhofsplatz mit seinen Kumpels ab – in Sichtweite von Skinheads, von denen immer Gewalt droht. Bei der Einbürgerung nach 18 Jahren schreibt Arda in den 300 Zeichen Pflichttext: „Ich werde eure Töchter vögeln, bis sie arabisch sprechen“, dann ist er endlich „officially Kartoffel“, wie sie alle Deutschen nennen. Es geht um ein Leben ohne Vater, ein Leben ohne Pass, ein Leben in Deutschland als „Kanake“, wie er sich oft selbst nennt, um eine harte Jugend Ruhrgebiet mit Rassismus, Gewalt, Vorurteilen – und Rap. Das erzählt Öziri meisterhaft, in einer ganz eigenen Sprache, deren Duktus laufend ohne spürbaren Bruch wechselt, immer authentisch, immer packend – großartig.

Vierundsiebzig

von Ronya Othmann, Rowohlt

Der erschütternde Versuch, den Völkermord an den Jesuiten von 2014 sprachlich, faktisch und mental zu erfassen.

Der Wucht dieses „Romans“ konnte und kann sich niemand entziehen. Im August 2014 begehen die Terroristen des sogenannten Islamischen Staats (IS) im Shingal im Nordirak ein Massaker an den dort lebenden Jesiden, um diese zu vernichten. Weil sich die kurdischen Peschmerga zuvor ohne Ankündigung aus ihren Stellungen entfernt hatten, sind die Jesiden den Angreifern praktisch schutzlos ausgeliefert. Tausende sterben, die Überlebenden fliehen in die Berge. In ihrem beklemmenden neuen Werk „Vierundsiebzig“ beschreibt die tolle Schriftstellerin und scharfsinnige Kolumnistin („Import – Export“ in der FAS) Ronya Othmann die Bemühungen der Erzählerin, den versuchten Völkermord an den Jesiden aufzuarbeiten – in der Zählung der Jesiden ist es der 74. Versuch, sie auszulöschen. Die Erzählerin will einen „Roman über den Genozid“ schreiben, ihre Sprachlosigkeit angesichts des Grauens überwinden, ihre Fassungslosigkeit durch Text bekämpfen. Sie, die in Deutschland aufgewachsene Tochter einer Deutschen und eines kurdischen Jesiden, reist mehrfach in die Region, in teilweise gefährlichste Gegenden, nicht überall lässt man sie hin. Sie reist allein, mit einer Freundin, mit dem Vater. Sie besucht Verwandte, Überlebende, verlassene Dörfer, Flüchtlingscamps, alte Schlachtfelder, damalige Fluchtrouten, Orte der vielen Massengräber, die nach dem Abzug des „IS“ gefunden wurden. Sie beobachtet sich, überwältigt von den Eindrücken, selbst beim Beobachten und spürt die Ausweglosigkeit des Unterfangens, daraus einen Roman machen zu wollen. Sie beschließt, alles möglichst präzise zu protokollieren: die Aussagen der Befragten, die Fakten, die Bilder, die sich ihr aufdrängen, jede Grausamkeit, die sie erfährt. So ist „Vierundsiebzig“ das bewegende und beklemmende Protokoll des Versuchs, das Unbegreifliche in Worte zu fassen. Ein Text, der noch sehr lange nachwirkt.

Vor dem Anfang

von Burghart Klaußner, Kiepenheuer & Witsch

Berlin, April 1945: Den ganzen Schrecken der letzten Kriegstage und die Hoffnung auf ein baldiges Ende lässt Burghart Klaußner in…

Berlin, April 1945: Den ganzen Schrecken der letzten Kriegstage und die Hoffnung auf ein baldiges Ende lässt Burghart Klaußner in seinem schnörkellos und glänzend geschriebenen Debütroman „Vor dem Anfang“ aufleben: Fritz und Schultz, die bis jetzt dem Grauen des Krieges entkommen sind, bekommen im umkämpften Berlin einen letzten, völlig unsinnigen, dafür aber lebensgefährlichen Befehl, nach dessen Ausführung sie sich am Wannsee in Sicherheit bringen wollen. Immer in Gefahr, entweder von der heranrückenden Roten Armee oder fanatischen Nazis erwischt zu werden, so entkommt Fritz nur knapp einer standrechtlichen Erschiessung. Das ist spannend, traurig und, ja, streckenweise auch lustig. Und wird noch lebendiger, wenn der Schauspieler, wie hier beim Writers‘ Thursday, seinen Figuren seine Stimme leiht. Übrigens soll die Szene mit der gerade noch mal verhinderten standrechtlichen Erschiessung Klaußners Vater so ähnlich widerfahren sein.

Wenn wir einmal nicht grausam sind, glauben wir gleich, wir seien gut

von Robert Stadlober, Verbrecher

Texte von Kurt Tucholsky, herausgegeben von Robert Stadlober

Robert Stadlober ist als preisgekrönter Schauspieler, als erfolgreicher Hörbuch- und Synchronsprecher bekannt, aber er ist auch ein leidenschaftlicher Musiker. Und als solcher immer schon literaturaffin – so hatte er etwa mit einer dreiköpfigen Band frühe Gedichte des Autor Stefan Heym vertont. Robert liebt vor allem aber Texte von Kurt Tucholsky, von denen er einige als Herausgeber in dem kleinen Band „Wenn wir einmal nicht grausam sind, dann glauben wir gleich, wir seien gut“ versammelt hat. In seinem Vorwort schildert er ein Gedankenexperiment: Wie wäre es, fragt er, wenn wir mit den fünf Herren Panther, Tiger, Wrobel, Hauser (alles Pseudonyme von Tucholsky, unter denen er seine Texte verfasste) und Tucholsky zusammen in der Bahn säßen und ihnen bei ihren Gesprächen über Stadt, Land und Leute zuhören könnten, während der Zug langsam Berlin verlässt? Was für einen Eindruck bekämen wir von ihrer Welt? Wie viele Ähnlichkeiten würden wir feststellen, schöne und schreckliche? Wie sehr würden sich die Träume und Wünsche, die Gewalt und der Hass, den sie beobachten, von den unseren unterscheiden, vielleicht nur ein bisschen? Auch daran würde man wohl schnell die zeitlose Prägnanz der Texte Tucholskys erkennen. Beim Writers´ Thursday las Robert die beiden Texte „Es gibt keinen Neuschnee“ (über unsere vergebliche Hoffnung, ganz anders als andere und ihnen ganz bestimmt voraus zu sein) sowie „Berlin! Berlin!“ über den schwierigen Charakter Berlins und seiner Bewohner, auch ein Text mit Ewigkeitswert. Zwei der Texte, die Robert besonders bewegt haben, hat er auch vertont und vorgesungen (beim Indie Label Staatsakt ist sein Album mit der Neuvertonung von Tucholsky-Gedichten erschienen). Lesenswert, hörenswert!

Wie lange noch

von Rainer Schmidt, KiWi

Rainer Schmidt ist Gastgeber und Erfinder des Writers´ Thursday. „Wie lange noch“ ist der erste von vier Romanen, die er…

Rainer Schmidt ist Gastgeber und Erfinder des Writers´ Thursday. „Wie lange noch“ ist der erste von vier Romanen, die er bisher geschrieben hat. Es geht um den Gymnasiasten Felix, der sich draußen auf den Straßen in einem Krieg gefangen sieht, den der Hölzenbein und seine Schlägerfreunde gegen ihn und die anderen führt. Seine Eltern und die Lehrer wollen nichts wissen, vom kalten Klassenkrieg in den Schluchten der Neubauviertel, von brutalster, stumpfer Gewalt und der Hilflosigkeit, die das bei Felix und seinen Freunden auslöst. Bis er sich eines Tages entscheidet, gegen jede Überzeugung und jeden inneren Impuls zurückzuschlagen. Wobei Felix es versteht, noch in den ausweglosesten, absurdesten, lebensvernichtendsten Situationen seinen Humor nicht zu verlieren.

Wir sind Helden

von Joachim Hentschel, Rowohlt

Wer sich auch nur ein bisschen für Musik interessiert, hat natürlich schon gehört von den illegalen Konzerten der Toten Hosen…

Wer sich auch nur ein bisschen für Musik interessiert, hat natürlich schon gehört von den illegalen Konzerten der Toten Hosen oder Element of Crime damals in der DDR, natürlich auch vom legendären Auftritt Udo Lindenbergs im Palast der Republik vor ausgewähltem, steifen FDJ-Publikum, aber das sind nur kleine Puzzelteilchen im großen Gesamtpanorama des deutsch-deutschen Popaustausches über die Mauer hinweg, das unser Freund, der extrem fachkundige Journalist und Autor Joachim Hentschel, in seinem großartigen Buch „Dann sind wir Helden“ erstmals entwirft. Über wie viele Brücken gingen Karat und Peter Maffay wirklich? Welche Fäden zog die Künstleragentur der DDR, an der niemand vorbei kam? Welche West-Künstler Auftritte buhlten um Auftritte, welche ostdeutschen Musiker durften im Westen touren, daheim aber nicht spielen, wer schmuggelte Gitarrenverstärker, Elektrokram etc in die DDR, wer war „reisefähig“, wer musste an einer Ukraine-Pipeline Probe spielen, was erzählt Stasi-Bernd heute und welcher DDR-Funktionär küsste begeistert Costa Cordalis? Es ging um Willkür und Angst, um Staatsaffären und Westmark, um Sehnsucht und Bürokratie. In vielen Interviews mit Zeitzeugen blättert Joachim der schon mit „Zu geil für diese Welt“ ein tolles Buch über die 90er Jahre hingelegt hatte, eine extrem spannende Seite der Musikgeschichte auf, die man so vorher nicht kannte und von deren Anekdoten man gar nicht genug kriegen kann.

Wir trafen uns in einem Garten

von Inga Humpe, Kiepenheuer & Witsch

Unsere Freundin Inga Humpe prägt seit vielen Jahrzehnten die deutsche Popmusik mit, seit dem Jahr 2000 ist sie mit ihrem…

Unsere Freundin Inga Humpe prägt seit vielen Jahrzehnten die deutsche Popmusik mit, seit dem Jahr 2000 ist sie mit ihrem Partner Tommi Eckart mit dem Elektropop-Duo 2raumwohnung sehr erfolgreich (zwei der Superhits: „Bei dir bin ich schön“ und „36 Grad“). Davor war sie etwa als Teil der Neonbabies aktiv oder hat bei der Formation „Deutsch-Österreichisches-Feingefühl“ beim Chartstürmer „Codo“ die unvergesslichen Zeilen „Und ich düse, düse im Sauseschritt“ gesungen. „Wir trafen uns in einem Garten“ heißt das nach einem bekannten Song von 2raumwohnung benannte Buch, welches sie – mit anderen – geschrieben hat. Die Schriftstellerin Helene Hegemann porträtiert darin Inga Humpe wie es nur Helene Hegemann kann, und Benjamin von Stuckrad-Barre erklärt seine große Leidenschaft für Ingas Werk. Ein Glanzstück ist Ingas eigene Erzählung am Anfang des Buches, in der sie ihre Jugend im Sauerland beschreibt. Es geht um das schwierige Verhältnis zu ihrer älteren Schwester Annette, mit der sie einen dauernden Kampf auszufechten hat, um die ganze Enge und Kälte der deutschen Provinz, der sie schon früh mit Punk, New Wave, Techno und Ecstasy zu entkommen versucht. Und je mehr man in die Gedankenwelt der jungen Erzählerin reingezogen wird, desto klarer wird, dass das hier nicht einfach irgendeine beliebige Jugendstory ist, nein, das ist der Kern eines bundesrepublikanischen Entwicklungsromans, der unbedingt nach einer Fortsetzung schreit (Go, Inga, go!!). Diese Zeit der Jugendjahre im fernen Sauerland, diesem anderen Planeten fern der Metropolen, empfand die Autorin, so schreibt sie, oft wie einen Block harter, bitterer Schokolade. Alles in ihr schrie nach Flucht, nach Wärme, nach Verständnis. Und weil sie die dort nicht fand, entschloss sie sich irgendwann, Terroristin zu werden… Dazu kam es zum Glück nicht, aber nach der Lektüre ist man um so erstaunter und beglückter, dass aus so viel empfundenem Elend eine so lebensbejahende Musik, eine so herzerwärmende, Menschen umarmende Poesie in ihren Songtexten werden konnte. Grandios. Wir freuen uns jetzt schon auf mehr….!

Wir waren wie Brüder

von Daniel Schulz, Hanser Berlin

Daniel Schulz hat einen beeindruckenden und teilweise verstörenden Roman über einige Aspekte der Wiedervereinigung geschrieben, die viele im Westen lange…

Daniel Schulz hat einen beeindruckenden und teilweise verstörenden Roman über einige Aspekte der Wiedervereinigung geschrieben, die viele im Westen lange lieber verdrängt haben (oder noch immer ignorieren) – über die Gewalt, Hoffnungslosigkeit und Härte in den Jahren nach der Wende im Osten Deutschlands. In „Wir waren wie Brüder“ beschreibt der anfangs 10jährige Erzähler, wie er nach dem Mauerfall erwartete, dass nun die Faschisten und Imperialisten das Land übernehmen – und er deswegen am liebsten die Panzer losgeschickt hätte, die sein Vater als Offizier der NVA befehligte. Es folgt für seine Eltern und deren Freunde eine Zeit der Arbeitslosigkeit, Orientierungslosigkeit, es kommt sogar zu Selbstmorden, weil einige nicht weiterwissen. Auf den Straßen verbreiten zugleich junge Neonazis Angst und Schrecken – es scheint, als führe die Passivität der Väter, die plötzlich ohne Arbeit und Perspektive dastehen, zur Aggression der Söhne. Härteste antisemitische, homophobe, sexistische Sprüche werden normal – am Anfang des Romans, der diese authentisch wiedergibt, steht extra eine Warnung. Die Nazi-Schläger verbreiten Terror auf der Straße, auch gegen den Erzähler, der mit seinen längeren Haaren und der leicht pummeligen Statur zur Zielscheibe wird. Er will aber nicht immer Opfer sein, der Boxsack der harten Jungs. Er will ein Rudel und ein bisschen Sicherheit. Mit unauffälliger Kleidung und taktischen Freundschaften auch zu Rechten versucht er, sich Ruhe zu erkaufen und unbeschadet zu überleben in diesem “barbarischen Jahrzehnt“, in dem überforderte ehemalige Volkspolizisten wegschauen, wenn die Nazis wieder zuschlagen oder „Zecken klatschen“ gehen. Es ist eine archaische, aus den Fugen geratene Welt, in der teilweise ein brutaler Überlebenskampf tobt, den Daniel Schulz auf eindringlichste Weise sehr einfühlsam beschreibt.

Wovon wir träumen

von Linn Hirse, Piper

Lin Hierse erzählt in ihrem Debütroman „Wovon wir träumen“ die Geschichte einer Deutsch-Chinesin Mitte 20 in Berlin, deren chinesische Mutter…

Lin Hierse erzählt in ihrem Debütroman „Wovon wir träumen“ die Geschichte einer Deutsch-Chinesin Mitte 20 in Berlin, deren chinesische Mutter vor mehr als zwei Jahrzehnten der Volksrepublik den Rücken gekehrt hatte, weil sie von einem anderen Leben in der Bundesrepublik träumte. Es geht um eine komplexe und emotional vielschichtige Mutter-Tochter-Beziehung, vor allem aber um ganz existenzielle Fragen: Wer bin ich, wo gehöre ich hin, was macht mich aus? Wie ist das, wenn man sich nirgends zu Hause fühlt? Die junge Frau lernt Chinesisch, um ihre Verwandten bei China-Besuchen zu verstehen, andererseits lebt sie ihr Leben in Berlin. Die chinesische Großmutter und die deutsche Oma sind wichtige Bezugspunkte, beide von jeweiligen Gewalterfahrungen geprägt: Die chinesische Großmutter hat Gewalt durch japanische Besatzungssoldaten erfahren, die deutsche musste einst vor der Sowjetarmee fliehen. Beides zusammen wird so auch zur Geschichte der Erzählerin, die ihre Haare extra kurz trägt und raucht aus Trotz, um der Mutter ihre Selbständigkeit zu beweisen. Eigentlich will sie aber alles richtig machen und niemanden zur Last fallen, alles alleine schaffen, bis sie nicht mehr weiß, wie man jemand sagt, dass sie auch mal jemand braucht. Völlig fertig ist sie, als die Mutter tief in ihrer Wunde rührt und ihr vorwirft: „Das ist, weil du keine echte Chinesin bist. Familie ist dir egal!“ Der ganze Zweifel der jungen Frau als gemeiner Vorwurf. Es geht um Identität, Einsamkeit, Fremdheit, Abgrenzung und Zugehörigkeit. Und das ist in einer bezaubernd zarten, behutsamen, einfühlsamen, tastenden Sprache gelungen, die einen sofort ummantelt und einschließt. Migration als Ergebnis von Träumen, nicht als Abfolge von Traumata, auch davon erzählt taz-Redakteurin Lin Hierse trotz aller Schwierigkeiten in ihrem einfühlsamen Werk.

Zweistromland

von Beliban zu Stolberg, Kanon

Die Drehbuchautorin Beliban zu Stollberg stellt in ihrem bemerkenswerten Debütroman „Zweistromland“ Fragen, die weit über die konkret erzählte Geschichte hinausgehen:…

Die Drehbuchautorin Beliban zu Stollberg stellt in ihrem bemerkenswerten Debütroman „Zweistromland“ Fragen, die weit über die konkret erzählte Geschichte hinausgehen: Muss man eigentlich seine eigene wahre Geschichte/Herkunft kennen? Was macht das mit einem, wenn man sie nicht kennt? Und was, wenn man feststellt, alles war ganz anders, als man bisher dachte oder erzählt bekommen hat? Und wirken Gewalterfahrungen möglicherweise über Generationen hinweg? Es geht um Dilan, die in Deutschland an der Nordseeküste geborene Tochter kurdischer Aleviten, die einst aus der Türkei in die Bundesrepublik geflohen waren. Warum, wurde nie wirklich erzählt. Die Eltern waren immer der Ansicht, man müsse nicht alles wissen und manchmal sei es für alle besser, nicht alles zu wissen. Als Dilan als Jugendliche einmal eine alte Kassette findet und heimlich abhört, wird klar, dass ihre Eltern möglicherweise einmal politisch sehr aktiv waren und der Vater in der Türkei Anwalt – wovon Dilan nichts wusste. Die Eltern wollen darüber nicht reden. Nach dem Tod der Mutter reist die schwangere Dilan 2016, die mit ihrem schwedischen Mann mittlerweile in Istanbul lebt, in den Osten der Türkei, nach Diyarbakir, der Hauptstadt der Kurden, wo kurz vorher noch ein Bürgerkrieg getobt hatte. Sie will endlich wissen, wer ihre Eltern wirklich waren. Sie stellt fest: Sie wusste praktisch nichts. Die Reise bringt einen völlig neuen Blick auf die Eltern, auf sich selbst und auf den immer etwas geheimnisvoll-seltsamen Bruder. Dilan bricht mit dem Schweigen und emanzipiert sich damit auf der Suche nach ihrer Identität. Eine starke Geschichte!

Zwischen Du und Ich

von Mirna Funk, dtv

Mirna Funk ist vielen als Autorin und Kolumnistin (Cosmopolitan, Vogue) bekannt, die sich genauso kompetent und prägnant zu Sexthemen wie…

Mirna Funk ist vielen als Autorin und Kolumnistin (Cosmopolitan, Vogue) bekannt, die sich genauso kompetent und prägnant zu Sexthemen wie zu Fragen jüdischer Identität äußern kann – und sich als moderne Feministin versteht, die gerade mit ihrem Sachbuch „Who cares – von der Freiheit, Frau zu sein“ in den Bestsellerlisten stand. Beim Writers´ Thursday hat Mirna aus ihrem Roman „Zwischen Du und Ich“ gelesen, ihr zweiter übrigens nach „Winternähe“. Es geht um Nike, eine Jüdin aus Ostberlin, die zwar täglich in ihrer Straße am Stolperstein der Urgroßmutter vorbeigeht, aber von Rosa, ihrer Oma, nie wirklich das über die Tote erfährt, was sie eigentlich interessiert. Über ihre Agentur bekommt sie einen Job in Tel Aviv, wo sie den israelischen Journalisten Noam lieben lernt, der ein eigenartiges Verhältnis zu seinem Onkel Asher hat, mit dem er zusammenlebt, obwohl der ihn nicht gut zu behandeln scheint. In Yad Vashem kann Nike einige ihrer Fragen zur Urgroßmutter klären, aber längst nicht alle – und es offenbart sich, dass auch der gerne so lässige Noam Geheimnisse mit sich herumträgt, die ihn stark prägen. In der leidenschaftlichen, komplizierten Affäre zwischen Nike und Noam geht es um die große Frage, wie stark wir alle eigentlich im Bann von Familientraumata stehen – und auch der eigenen, selbst erlittenen. Wie frei lassen uns unsere Familiengeschichten und Erfahrungen wirklich leben und lieben – kann man ihnen jemals entkommen? Das ist spannender, aber auch ernster, existenzieller Stoff, den Mirna Funk allerdings so beeindruckend leicht erzählt, dass man nur staunen kann.