Buchtipps

Buchempfehlungen von Rainer Schmidt (in alphabetischer Reihenfolge der Buchtitel)

Spitzweg

von Eckhart Nickel, Piper

Es ist immer wieder eine ganz besondere Freude, unseren Freund Eckhart Nickel beim Writers´ Thursday begrüßen zu dürfen. Eckhart ist…

Es ist immer wieder eine ganz besondere Freude, unseren Freund Eckhart Nickel beim Writers´ Thursday begrüßen zu dürfen. Eckhart ist stets für Überraschungen gut, auch was seinen Look betrifft. Lange Zeit als Ehrenvorsitzender des „White Trousers Club International“ bekannt, verblüffte er uns diesmal mit ganz anderen Kombinationen – und sah dabei selbstverständlich wieder einmalig aus. Aber kommen wir zum Wesentlichen: Schon mit seinem vielfach preisgekrönten Roman „Hysteria“ stand er 2018 auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis, jetzt mit „Spitzweg“ im vergangenen Jahr gar auf der Shortlist. Völlig zu recht, natürlich. Denn niemand erzählt stilsicherer als good old Eckhart! Für die Leser und seine Protagonisten erschafft er eine faszinierend zeitlose Welt der Kunst und Künstlichkeit. Der Erzähler und sein neuer Mitschüler Carl, der genial und verschroben ist, wollen das fantastische Kunsttalent Kirsten aus ihrer Klasse rächen, nachdem sie von einer Lehrerin trotz ihres einmaligen Kunsttalents beleidigt worden ist. Doch die raffiniert ausgetüftelte vorgebliche Entführung endet ganz anders, als sich das alle vorgestellt haben. Eckhart baut uns und seinem Trio eine ganz eigene Welt, in der sich niemand um Smartphones und Computer schert und in der fast alle in einer besonders gewählten und facettenreichen Sprache zu sprechen scheinen, so entsteht eine ganz eigene Komik in diesem Roman, der eine Satire auf das Bildungsbürgertum und Bildungsromane sein könnte – vielleicht aber auch nicht. Das müssen die Leser schon selbst beurteilen, der Autor verrät es nicht. Es geht um Kunst und Künstlichkeit, um die Räume, die Kunst schaffen kann, und die Kunstwelten, die sich Menschen schaffen – und auch um die Kraft der Literatur. Das ist faszinierend, lustig – und immer absolutely stilsicher, aber das war ja klar.

Südstern

von Tim Staffel, Kanon

Was für ein fulminantes Comeback: Tim Staffels „Südstern“ ist sofort auf der Longlist für den Buchpreis gelandet und hat alle…

Was für ein fulminantes Comeback: Tim Staffels „Südstern“ ist sofort auf der Longlist für den Buchpreis gelandet und hat alle daran erinnert, was für ein außergewöhnlicher Autor er ist. Ende der 90er hatte er mit seinem Erstling „Terrordrom“ für großes Aufsehen erregt (von Frank Castorf für die Volksbühne dramatisiert), danach hatten ihn viele nicht mehr wirklich auf dem Schirm, trotz diverser Theaterstücke, Hörspiele und Romane. In „Südstern“ geht es vor allem um zwei Menschen in Berlin: Vanessa arbeitet als Barfrau und Apothekenkurierin, die mit den Medikamenten auch (fast) alles liefert, was der illegale Drogenmarkt zu bieten hat. Sie lebt mit Olli zusammen, einem ehrgeizigen Politiker, der sich für die Liberalisierung der Drogenpolitik einsetzt und nichts von ihren illegalen Nebentätigkeiten wissen darf – und so beschäftigt ist, dass er eh kaum etwas mitbekommt. Deniz ist türkischstämmiger Polizist, der harte, lange Schichten mit einer kroatischstämmigen Kollegin mit einer Angststörung fährt und zuhause einen schwer an Parkinson erkrankten Baba in einer beengten Wohnung pflegen muss. Es geht um Gewalt, Neurosen, Aggression, Dreck und Obdachlosigkeit, um eine Stadt und um Menschen, die permanent am Limit leben und überleben wollen. Aber es geht auch um Menschlichkeit inmitten eines dystopisch anmutenden Settings, in dem die Stadt zunehmend verlottert: Vanessa lindert die Qualen ihrer Kunden durch chemische Substanzen, Deniz versucht, die Härten der Großstadt durch Verständnis abzumildern. Zwischen den beiden beginnt nach einer zufälligen Begegnung eine unwahrscheinliche Liebe, die unter keinem guten Stern steht. Staffel beschreibt in einem atemlosen Flow das echte Großstadtleben fern aller Klischees und ohne Pathos, der unnachahmliche Rhythmus sauft einen tief in die Innereien der Stadt, in der die Sehnsucht nach Romantik stärker ist als jede Härte des Alltags. Ein ganz großer Aufschlag!

Super einsam

von Anton Weil, Kein & Aber

Anton Weil ist bekannt als Schauspieler, Sprecher und Musiker (Album: „Groll“) und hat den erfolgreichen Podcast „Schöner scheitern“ entwickelt, beim…

Anton Weil ist bekannt als Schauspieler, Sprecher und Musiker (Album: „Groll“) und hat den erfolgreichen Podcast „Schöner scheitern“ entwickelt, beim Writers´ Thursday las er aus seinem Debütroman „Super einsam“: Vito aus Kreuzberg, der als trauriger Clown und Sprecher arbeitet, durchläuft eine schwierige Phase. Zwei Ereignisse lassen ihn mit dem Leben hadern: Da ist der frühe Krebstod seiner geliebten Mutter, die er als Jugendlicher bis zum Tod im Hospiz begleitete und die ihm „nur“ einen Aluminiumkoffer hinterlassen hat, der im Keller des Vaters auf ihn wartet. Den Inhalt kennt er noch nicht: Geld? Ein Tagebuch? Die Antwort auf so viele Fragen? Er hat Hemmungen, den Koffer einfach zu öffnen. Das Verhältnis zum Vater ist angespannt. Der ist als Psychologe gegenüber seinen Patienten sensibel, bei seinem Sohn aber unterläuft er alle Erwartungen: zu kalt, zu desinteressiert, zu wenig einfühlsam. Zudem hat Vito die kürzliche Trennung von seiner Freundin schwer getroffen. Schon in der Beziehung wurde oft gestritten, wer liebt und begehrt wen mehr und warum nicht. Als Vito gesteht, dass er – ganz unabhängig von seinen Gefühlen zu ihr – auch gerne mal Männer daten würde, reagiert die Freundin mit aggressivem Unverständnis. Vito hat Panikattacken, fühlt sich verloren und empfindet manchmal schon Neid und ein bisschen Abscheu, wenn er Flirtende im Zug beobachtet. Es geht um Schmerz und Traumata, um Begehren und Identitätskrisen, um das Gefühl abgrundtiefer Einsamkeit und den Wunsch nach Liebe, Nähe, Ruhe. Ein fulminantes Debüt.

Taubenleben

von Paulina Czienkoswki, Blumenbar

iedersehen macht Freude: Es ist noch gar nicht soooo lange her, da war Paulina Czienskowski mit ihrem bemerkenswerten Manifest gegen…

iedersehen macht Freude: Es ist noch gar nicht soooo lange her, da war Paulina Czienskowski mit ihrem bemerkenswerten Manifest gegen emotionale Verkümmerung“ beim Writers‘ Thursday, jetzt las sie an selber Stelle aus ihrem schönen aktuellen Werk, ihrem ersten Roman: „Taubenleben“. Darin versucht die junge Hauptprotagonistin Lois die schwierigen Fragen zu klären, wie man in die Zukunft schauen soll, wenn die Vergangenheit, also das Fundament, auf dem man sicher stehen sollte, nicht klar ist; wie man Geheimnisse in der eigenen Familie entschlüsselt und was es eigentlich ist, das einen wirklich ausmacht.

Taxi

von Cemile Sahin, Aufbau

Eine echte Entdeckung: Mit ihrem Roman „Taxi“ hat Cemile Sahin 2019 ein tolles Debüt hingelegt, das sehr große Lust auf…

Eine echte Entdeckung: Mit ihrem Roman „Taxi“ hat Cemile Sahin 2019 ein tolles Debüt hingelegt, das sehr große Lust auf mehr macht!

Technophoria

von Niklas Maak, Hanser

Noch ein Blick zurück in die ganz nahe Vergangenheit, als auch Fremde noch ohne Abstand und Mundschutz miteinander reden konnten:…

Noch ein Blick zurück in die ganz nahe Vergangenheit, als auch Fremde noch ohne Abstand und Mundschutz miteinander reden konnten: Autor Niklas Maak (ganz links) nach seiner Lesung beim Writers´ Thursday im März im 1. OG des Borchardt im Gespräch mit einer Besucherin am Tisch unserer Lieblingsbuchhandlung Hundt Hammer Stein. Niklas Maak hat sich als Journalist schon immer für Smart Citys, menschenähnliche Roboter und gigantische Serverfarmen und selbstfahrende Autos interessiert. In seinem Roman „Technophoria“ zeigt er uns eine Welt, die sehr futuristisch anmutet, aber doch gar nicht so weit von unserer entfernt ist, denn die Zukunft hat schon begonnen. Es geht um das Verhältnis von Menschen zu Maschinen, von Menschen zu ihrer Welt, von den Möglichkeiten und Abgründen, die uns die neuen Techniken bieten – und alte Begierden, die durch keine Technik aus der Welt geschaffen werden können.

Tot oder lebendig

von Ariana Zustra, Frankfurter Verlagsanstalt

Die junge Anna, die mit ihrer Identität und ihrem Leben hadert, erfährt, dass sie die Reinkarnation eines kroatischen Juden aus Dubrovnik sein soll. Dem geht sie sofort nach. Denn wer kann man sein, wenn man nicht weiß, wer man ist?

Wir lieben schreibende Musiker:innen und musizierende Autor:innen, vor allem, wenn wir beim Writers´ Thursday neben den Texten auch noch einen kleinen Gig bekommen. Das war der Fall am vergangenen Donnerstag, als uns Ariana Zustra bzw. ihr Projekt „Zustra“ mit Schlagzeuger Danny Weber zwei Stücke mitbrachte, die sie live performte und mit ihrer beeindruckenden Stimme und dem sphärischen Sound den ganzen Saal verzauberte. Ihre neue Single „River“ kommt übrigens am 21. März heraus, das zweite Album im Sommer. Davor entführte Ariana uns mit einem Auszug aus ihrem Debütroman „Tot oder lebendig“ nach Dubrovnik, wo ihre ostdeutsche Heldin Anna Thurow nach ihrer Identität und einem Menschen namens Andri sucht. Einst wollte sie Astronautin werden, endete aber in einem simplen Bürojob. Sie ist unzufrieden mit ihrem Leben, mit ihrem Körper, dem – so denkt sie manchmal – ein Penis zu fehlen scheint. Unter Hypnose erfährt sie einen möglichen Grund für ihr Unwohlsein: Sie sei die Reinkarnation eines Juden aus Ragusa, dem heutigen Dubrovnik. Klingt verrückt, aber nicht aber für Anna, die in Kroatien nach Spuren eben dieses Mannes sucht und dabei auf die alte Anka trifft, die einiges über Andri zu wissen scheint. Bei der Suche nach Spuren dieses geheimnisvollen Menschen – und damit in gewisser Weise ja nach ihrem eigenen Vorleben –, stößt sie auf immer mehr Geschichte und Geschichten aus der Nazizeit, auf Verbrechen der deutschen Besatzer, aber erfährt auch von Verbrechen der Partisanen und Kommunisten nach dem Abzug der Deutschen. Da gibt es Inseln, die nicht betreten werden sollen und Häuser auf diesen Flecken, über die man lieber nicht redet. Es geht um Identitätssuche, um Herkunft, um Sehnsucht und Begierde, um eine Leere, die gefüllt werden will – und um die grundsätzliche Frage, wer wir sein können, wenn wir nicht wissen, wer wir sind? Beeindruckend.

Triskele

von Miku Sophie Kühmel, S. Fischer

Mit ihrem Debüt „Kintsugi“ sprang Autorin Miku Sophie Kühmel 2019 gleich auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis und gewann…

Mit ihrem Debüt „Kintsugi“ sprang Autorin Miku Sophie Kühmel 2019 gleich auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis und gewann sowohl den aspekte-Literaturpreis wie auch den Literaturpreis der „Jürgen Ponto Stiftung“. Damals stand ein Männerpaar im Mittelpunkt, ihr neues Werk „Triskele“ dreht sich um das Verhältnis von drei Schwestern, die jeweils 16 Jahre auseinander liegen, alle dieselbe Mutter, aber unterschiedliche Väter haben. (Unter eine „Triskele“ versteht ein Schmuckstück aus drei miteinander verschlungenen und doch auseinanderstrebenden Spiralen.) Die depressive und immer als eher kalt wahrgenommene Mutter ist sehr selbstbestimmt aus dem Leben geschieden, Mercedes, Mira und Matea kommen im Pandemiejahr 2020 zusammen, um die Wohnung der Mutter in ihrem Heimatstädtchen in Sachsen-Anhalt zu räumen. Die jüngste Schwester – Matea – muss nach Berlin zu Mercedes ziehen, der Ältesten, die Kinder eigentlich nicht leiden kann und früher schon früh, wohl: zu früh, Verantwortung für die mittlere Schwester Mira hatte übernehmen müssen, weil die stets alleinerziehende und labile Mutter überfordert war. Mercedes, die, im Gegensatz zu ihren Schwestern, noch sehr bewusst die DDR erlebt hat, war immer die Zielstrebigste und Organisierteste, ist aber gerade entlassen worden, Mira galt als orientierungslos und verdient Geld als Sportlehrerin, Matea fühlt sich vor allem in der digitalen Welt zu Hause. Die 3er-Konstellation ist für alle anfangs ungewohnt, sie fremdeln, die Beziehungen sind kompliziert und teilweise verklemmt. Miku Sophie Kühmel lässt uns den Schwestern- und Generationenkonflikt abwechselnd jeweils durch die Augen der drei Frauen erleben, die, jede für sich und dann irgendwie auch alle zusammen, nach dem richtigen Leben suchen und der Wahrheit in der erinnerten Vergangenheit. Ihr ist ein zartes, fragendes, zweifelndes, sehnsüchtiges Buch gelungen, das niemanden kalt lässt.

Unheimlich nah

von Johann Scheerer, Piper

Der Hamburger Tonstudiobetreiber (Clouds Hill Studios), Labelbesitzer, Musiker, Autor und (an diesem Abend) Co-Gastgeber des Writers´ Thursday in Hamburg, Johann…

Der Hamburger Tonstudiobetreiber (Clouds Hill Studios), Labelbesitzer, Musiker, Autor und (an diesem Abend) Co-Gastgeber des Writers´ Thursday in Hamburg, Johann Scheerer, las nicht nur aus seinem zweiten autofiktionalen Roman „Unheimlich nah“, sondern griff auch gleich zur Gitarre und sang seinen wunderbaren Song „Sag Mal Johann“. In „Unheimlich nah“ berichtet der Erzähler vom Leben unter einem Sicherheitsschirm, der nach der beendeten Entführung seines Vaters für nötig gehalten wird, weil man ein Folgeverbrechen befürchtet. Das Buch ist praktisch die Fortsetzung seines bemerkenswerten Debütwerkes „Wir sind dann wohl die Angehörigen“. Es geht um das Leben nach dem großen Schock, wie das überwältigende Bedürfnis der Eltern nach Sicherheit das Leben des Heranwachsenden dominiert. Was immer er macht, wo immer er hin will, wen immer er trifft – ob auf dem Weg zur Schule, abends zur Party, beim Spaziergang mit einer potentiellen Freundin – immer sind da die Sicherheits-Menschen, die ihm scheinbar unauffällig folgen. Sie sind ihm „unheimlich nah“. Was macht das mit einem, wenn man niemals wirklich alleine ist, wenn überall Gefahr gewittert wird? Was für Beziehungen sind dann noch möglich, was für eine Freiheit, wie viel Punk – bei so einer Kontrolle? Mit Lügen, Halbwahrheiten und Notlügen versucht der Erzähler immer wieder, dem System zu entkommen. Der Ausnahmezustand ist seine Normalität. Ein Text, der berührt und unter die Haut geht.

Unsterblich sind nur die anderen

von Simone Buchholz, Suhrkamp

Ganz exklusiv las Simone Buchholz in Hamburg beim Writers` Thursday aus ihrem noch nicht erschienenen neuen Buch „Unsterblich sind nur…

Ganz exklusiv las Simone Buchholz in Hamburg beim Writers` Thursday aus ihrem noch nicht erschienenen neuen Buch „Unsterblich sind nur die anderen”, wobei man automatisch „Krimi“ sagen möchte, weil Simone als preisgekrönte Krimiautorin bekannt ist (u.a. ausgezeichnet mit dem renommierten britischen Dagger Award, dazu Deutscher Krimipreis, etc. pp.), aber dieses irre Buch ist so viel mehr: Seit fünf Wochen sind Tarik, Moritz und Flavio unterwegs, seit zwei Wochen melden sie sich nicht mehr. Malin und Iva suchen nach den Jungs und nehmen die Fähre von Dänemark nach Island. Von Anfang an herrscht eine seltsame Stimmung: Das Hotel, in dem sie vor der Fährfahrt übernachten, scheint am nächsten Morgen verschwunden. Die Crew sieht alterslos überirdisch gut aus, der Kapitän ist unfassbar attraktiv, aber von einem Geheimnis umgeben – und warum scheint die Barfrau bei jeder Umdrehung komplett anders auszusehen? Weshalb hocken die drei gesuchten Jungs zufrieden auf dem Schiff als sei nichts geschehen? Wer segelt da mit wem unter Deck? Bald wollen auch Malin und Iva nicht mehr weg, jedoch zerrt an Iva der Gedanke an ihr zurückgelassenes Kind… Es geht um Freundschaft und große Gefühle, um Sinn und die Verlockungen der Unendlichkeit, um den Preis der Freiheit – und den Preis der Liebe. Das ist geheimnisvoll, spannend, mysteriös, verwirrend, immer fesselnd, ein durchgeknalltes Buch wie auf Droge – ganz ohne Kriminalfall

Vatermal

von Necati Öziri, Ullstein

Der in Recklinghausen geborene Necati Öziri – unter anderem Theaterautor beim Maxim-Gorki-Theater, Nationaltheater Mannheim und Schauspielhaus Zürich – hat es…

Der in Recklinghausen geborene Necati Öziri – unter anderem Theaterautor beim Maxim-Gorki-Theater, Nationaltheater Mannheim und Schauspielhaus Zürich – hat es mit seinem sensationellen Debütroman „Vatermal“ gleich auf die Shortlist für den Buchpreis geschafft, und das völlig zu Recht: Arda Kaya ist Anfang zwanzig, er liegt in Deutschland im Krankenhaus und weiß, er wird bald an multiplen Organversagen sterben. Deswegen schreibt er an seinen abwesenden Vater Melin einen Brief. Melin hat die Familie vor langer Zeit ohne Ansage Richtung Türkei verlassen. Und das, obwohl dort ein Haftbefehl auf ihn wartete, weil er als Mitglied der linksradikalen Gruppe Dev Sol an einem Mord beteiligt gewesen sein soll. Er ging ohne Begründung und hat sich nie wieder gemeldet. Die Mutter Ümran, deren Ersparnisse Melin verspielt hatte, wird alkoholkrank und versucht, mit Jobs bei McDonald´s die Familie zu ernähren. Ümran und Ardas Schwester Aylin streiten sich, bis diese flieht und freiwillig zu einer deutschen Pflegefamilie geht. Arda hat keinen Pass und muss unzählige demütigende Besuche auf dem Ausländeramt ertragen. In seiner Freizeit hängt er auf dem Bahnhofsplatz mit seinen Kumpels ab – in Sichtweite von Skinheads, von denen immer Gewalt droht. Bei der Einbürgerung nach 18 Jahren schreibt Arda in den 300 Zeichen Pflichttext: „Ich werde eure Töchter vögeln, bis sie arabisch sprechen“, dann ist er endlich „officially Kartoffel“, wie sie alle Deutschen nennen. Es geht um ein Leben ohne Vater, ein Leben ohne Pass, ein Leben in Deutschland als „Kanake“, wie er sich oft selbst nennt, um eine harte Jugend Ruhrgebiet mit Rassismus, Gewalt, Vorurteilen – und Rap. Das erzählt Öziri meisterhaft, in einer ganz eigenen Sprache, deren Duktus laufend ohne spürbaren Bruch wechselt, immer authentisch, immer packend – großartig.

Vierundsiebzig

von Ronya Othmann, Rowohlt

Der erschütternde Versuch, den Völkermord an den Jesuiten von 2014 sprachlich, faktisch und mental zu erfassen.

Der Wucht dieses „Romans“ konnte und kann sich niemand entziehen. Im August 2014 begehen die Terroristen des sogenannten Islamischen Staats (IS) im Shingal im Nordirak ein Massaker an den dort lebenden Jesiden, um diese zu vernichten. Weil sich die kurdischen Peschmerga zuvor ohne Ankündigung aus ihren Stellungen entfernt hatten, sind die Jesiden den Angreifern praktisch schutzlos ausgeliefert. Tausende sterben, die Überlebenden fliehen in die Berge. In ihrem beklemmenden neuen Werk „Vierundsiebzig“ beschreibt die tolle Schriftstellerin und scharfsinnige Kolumnistin („Import – Export“ in der FAS) Ronya Othmann die Bemühungen der Erzählerin, den versuchten Völkermord an den Jesiden aufzuarbeiten – in der Zählung der Jesiden ist es der 74. Versuch, sie auszulöschen. Die Erzählerin will einen „Roman über den Genozid“ schreiben, ihre Sprachlosigkeit angesichts des Grauens überwinden, ihre Fassungslosigkeit durch Text bekämpfen. Sie, die in Deutschland aufgewachsene Tochter einer Deutschen und eines kurdischen Jesiden, reist mehrfach in die Region, in teilweise gefährlichste Gegenden, nicht überall lässt man sie hin. Sie reist allein, mit einer Freundin, mit dem Vater. Sie besucht Verwandte, Überlebende, verlassene Dörfer, Flüchtlingscamps, alte Schlachtfelder, damalige Fluchtrouten, Orte der vielen Massengräber, die nach dem Abzug des „IS“ gefunden wurden. Sie beobachtet sich, überwältigt von den Eindrücken, selbst beim Beobachten und spürt die Ausweglosigkeit des Unterfangens, daraus einen Roman machen zu wollen. Sie beschließt, alles möglichst präzise zu protokollieren: die Aussagen der Befragten, die Fakten, die Bilder, die sich ihr aufdrängen, jede Grausamkeit, die sie erfährt. So ist „Vierundsiebzig“ das bewegende und beklemmende Protokoll des Versuchs, das Unbegreifliche in Worte zu fassen. Ein Text, der noch sehr lange nachwirkt.

Vor dem Anfang

von Burghart Klaußner, Kiepenheuer & Witsch

Berlin, April 1945: Den ganzen Schrecken der letzten Kriegstage und die Hoffnung auf ein baldiges Ende lässt Burghart Klaußner in…

Berlin, April 1945: Den ganzen Schrecken der letzten Kriegstage und die Hoffnung auf ein baldiges Ende lässt Burghart Klaußner in seinem schnörkellos und glänzend geschriebenen Debütroman „Vor dem Anfang“ aufleben: Fritz und Schultz, die bis jetzt dem Grauen des Krieges entkommen sind, bekommen im umkämpften Berlin einen letzten, völlig unsinnigen, dafür aber lebensgefährlichen Befehl, nach dessen Ausführung sie sich am Wannsee in Sicherheit bringen wollen. Immer in Gefahr, entweder von der heranrückenden Roten Armee oder fanatischen Nazis erwischt zu werden, so entkommt Fritz nur knapp einer standrechtlichen Erschiessung. Das ist spannend, traurig und, ja, streckenweise auch lustig. Und wird noch lebendiger, wenn der Schauspieler, wie hier beim Writers‘ Thursday, seinen Figuren seine Stimme leiht. Übrigens soll die Szene mit der gerade noch mal verhinderten standrechtlichen Erschiessung Klaußners Vater so ähnlich widerfahren sein.

Wenn wir einmal nicht grausam sind, glauben wir gleich, wir seien gut

von Robert Stadlober, Verbrecher

Texte von Kurt Tucholsky, herausgegeben von Robert Stadlober

Robert Stadlober ist als preisgekrönter Schauspieler, als erfolgreicher Hörbuch- und Synchronsprecher bekannt, aber er ist auch ein leidenschaftlicher Musiker. Und als solcher immer schon literaturaffin – so hatte er etwa mit einer dreiköpfigen Band frühe Gedichte des Autor Stefan Heym vertont. Robert liebt vor allem aber Texte von Kurt Tucholsky, von denen er einige als Herausgeber in dem kleinen Band „Wenn wir einmal nicht grausam sind, dann glauben wir gleich, wir seien gut“ versammelt hat. In seinem Vorwort schildert er ein Gedankenexperiment: Wie wäre es, fragt er, wenn wir mit den fünf Herren Panther, Tiger, Wrobel, Hauser (alles Pseudonyme von Tucholsky, unter denen er seine Texte verfasste) und Tucholsky zusammen in der Bahn säßen und ihnen bei ihren Gesprächen über Stadt, Land und Leute zuhören könnten, während der Zug langsam Berlin verlässt? Was für einen Eindruck bekämen wir von ihrer Welt? Wie viele Ähnlichkeiten würden wir feststellen, schöne und schreckliche? Wie sehr würden sich die Träume und Wünsche, die Gewalt und der Hass, den sie beobachten, von den unseren unterscheiden, vielleicht nur ein bisschen? Auch daran würde man wohl schnell die zeitlose Prägnanz der Texte Tucholskys erkennen. Beim Writers´ Thursday las Robert die beiden Texte „Es gibt keinen Neuschnee“ (über unsere vergebliche Hoffnung, ganz anders als andere und ihnen ganz bestimmt voraus zu sein) sowie „Berlin! Berlin!“ über den schwierigen Charakter Berlins und seiner Bewohner, auch ein Text mit Ewigkeitswert. Zwei der Texte, die Robert besonders bewegt haben, hat er auch vertont und vorgesungen (beim Indie Label Staatsakt ist sein Album mit der Neuvertonung von Tucholsky-Gedichten erschienen). Lesenswert, hörenswert!

Wie lange noch

von Rainer Schmidt, KiWi

Rainer Schmidt ist Gastgeber und Erfinder des Writers´ Thursday. „Wie lange noch“ ist der erste von vier Romanen, die er…

Rainer Schmidt ist Gastgeber und Erfinder des Writers´ Thursday. „Wie lange noch“ ist der erste von vier Romanen, die er bisher geschrieben hat. Es geht um den Gymnasiasten Felix, der sich draußen auf den Straßen in einem Krieg gefangen sieht, den der Hölzenbein und seine Schlägerfreunde gegen ihn und die anderen führt. Seine Eltern und die Lehrer wollen nichts wissen, vom kalten Klassenkrieg in den Schluchten der Neubauviertel, von brutalster, stumpfer Gewalt und der Hilflosigkeit, die das bei Felix und seinen Freunden auslöst. Bis er sich eines Tages entscheidet, gegen jede Überzeugung und jeden inneren Impuls zurückzuschlagen. Wobei Felix es versteht, noch in den ausweglosesten, absurdesten, lebensvernichtendsten Situationen seinen Humor nicht zu verlieren.

Wir sind Helden

von Joachim Hentschel, Rowohlt

Wer sich auch nur ein bisschen für Musik interessiert, hat natürlich schon gehört von den illegalen Konzerten der Toten Hosen…

Wer sich auch nur ein bisschen für Musik interessiert, hat natürlich schon gehört von den illegalen Konzerten der Toten Hosen oder Element of Crime damals in der DDR, natürlich auch vom legendären Auftritt Udo Lindenbergs im Palast der Republik vor ausgewähltem, steifen FDJ-Publikum, aber das sind nur kleine Puzzelteilchen im großen Gesamtpanorama des deutsch-deutschen Popaustausches über die Mauer hinweg, das unser Freund, der extrem fachkundige Journalist und Autor Joachim Hentschel, in seinem großartigen Buch „Dann sind wir Helden“ erstmals entwirft. Über wie viele Brücken gingen Karat und Peter Maffay wirklich? Welche Fäden zog die Künstleragentur der DDR, an der niemand vorbei kam? Welche West-Künstler Auftritte buhlten um Auftritte, welche ostdeutschen Musiker durften im Westen touren, daheim aber nicht spielen, wer schmuggelte Gitarrenverstärker, Elektrokram etc in die DDR, wer war „reisefähig“, wer musste an einer Ukraine-Pipeline Probe spielen, was erzählt Stasi-Bernd heute und welcher DDR-Funktionär küsste begeistert Costa Cordalis? Es ging um Willkür und Angst, um Staatsaffären und Westmark, um Sehnsucht und Bürokratie. In vielen Interviews mit Zeitzeugen blättert Joachim der schon mit „Zu geil für diese Welt“ ein tolles Buch über die 90er Jahre hingelegt hatte, eine extrem spannende Seite der Musikgeschichte auf, die man so vorher nicht kannte und von deren Anekdoten man gar nicht genug kriegen kann.