Buchtipps
Madonna
Dr. Reyhan Şahin, vielen auch als Rapperin Lady Bitch Ray bekannt, ist Wissenschaftlerin, Aktivistin, Bildungsferentin und Buchautorin. Die Feministin, die…
Dr. Reyhan Şahin, vielen auch als Rapperin Lady Bitch Ray bekannt, ist Wissenschaftlerin, Aktivistin, Bildungsferentin und Buchautorin. Die Feministin, die über das muslimische Kopftuch promoviert hat, war zuletzt beim Writers´ Thursday mit „Yalla, Feminismus“. Sie las aus ihrem neuen Werk: „Madonna“. Als Rapperin eckte Lady Bitch Ray mit ihrem Stil, der offensiv weibliche Sexualität in expliziter Sprache thematisierte, sie oft an drei Fronten an: bei der deutschen Mehrheitsgesellschaft, in ihrem konservativem Zuhause – und in der von männlichen Machos dominierten Rap-Szene selbst. Den dort verbreiteten Sexismus, die Frauen- und Schwulenfeindlichkeit (alles Tendenzen, die bürgerliche Kritiker lange lieber ignorierten oder als „authentisch“ irgendwie hinnahmen) prangerte sie offen an, was sie zur Zielscheibe machte. Sie wurde wegen ihrer Kunst und ihrer Kritik in einem ungeheuerlichen Maße angefeindet, bis sie zusammenbrach und sich zurückzog, worüber sie offen kommunizierte. In ihrer ganzen Karriere hatte sie lange vor allem ein Vorbild: Madonna. Auch eine Frau mit Migrationshintergrund aus konservativem Haushalt, die offen ihre weibliche Sexualität in den Mittelpunkt ihrer Kunst stellte und sich in einer feindlichen Männerwelt durchsetzte – und auf wilde, ausgefallene Klamotten stand. Als einst ein Junge aus ihre Umgebung sagte: „Bäh, das ist ja eine lesbische Schlampe“, dachte das damals junge Mädchen aus Bremen-Gröpelingen: „Yes, das will ich auch sein, eine lesbische Schlampe“. Ein hochinteressantes, Augen öffnendes Buch, das viel über Reyhan Şahin erzählt, aber genauso viel über die Musikszene und die Gesellschaft, in der wir leben.
Mindset
Mit seinem Debütroman „Mindeset“ hat der Autor Sebastian Hotz – einer halben Millionen Twitter-Followern und 1,3 Millionen Instagram-Fans besser als…
Mit seinem Debütroman „Mindeset“ hat der Autor Sebastian Hotz – einer halben Millionen Twitter-Followern und 1,3 Millionen Instagram-Fans besser als „El Hotzo“ bekannt – ein satirisches und zugleich tieftrauriges Werk über den verzweifelten Kampf von randständigen Männern vorgelegt, die um Anerkennung und einen Ausweg aus ihrer Isolation und Bedeutungslosigkeit streben. Maximilian Krach, der CEO von „Krach Consulting“ ist überzeugt: Die Welt kann in Schafe und Wölfe unterteilt werden, und es kommt nur auf das richtige „Mindset“ an, um aus lahmen Schafen jagende Wölfe zu formen. Er selbst scheint mit seinen teuren Uhren, den perfekt sitzenden Slim-Fit-Anzügen und dicken Autos die Verkörperung des Aufstiegstraums. Den Weg dahin lehrt er in düsteren Seminarräumen mittelmäßiger Hotels, wohin es all jene zieht, die sich falsch in der Welt platziert sehen. Und damit verzaubert er auch den eigenbrödlerischen IT-Fachmann Mirko, der endlich einen Weg aus seinem öden Leben sieht und den Wolf in sich wecken will. Er wird zum fanatischen Gläubigen und kann es gar nicht fassen, dass das Leben und die Selbstdarstellung des Krach, wie er spät herausfindet, eine einzige Schummel-Show ist, ein Fake. Es ist so lustig wie beklemmend, Maximilian Krach und Mirko bei ihrer Suche nach einer neuen Identität jenseits ihres wahren Lebens zu begleiten. Es geht scharf und pointiert um vermeintliche Loser und bedrückende Männlichkeitsbilder, um Leere und Sehnsucht – und trotzdem ist „Mindset“ immer wieder auch sehr, sehr lustig.
Ministerium der Träume
Hengameh Yaghoobifarah hat viele Jahre in der taz die vielbeachtete Kolumne „Habibitus“ geschrieben und mit Fatma Aydemir das Buch „Eure…
Hengameh Yaghoobifarah hat viele Jahre in der taz die vielbeachtete Kolumne „Habibitus“ geschrieben und mit Fatma Aydemir das Buch „Eure Heimat ist unser Albtraum“ herausgegeben – und vor einiger Zeit den hochgelobten Roman „Ministerium der Träume“ veröffentlicht: Es geht um die Türsteherin Nasrin, die eines Morgens erfährt, dass ihre Schwester Nushin bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Sie zieht zu Nushins pubertierender Tochter Parvin – und glaubt nicht an einen Unfall. Sie will Gewissheit, weshalb sie mit intensiven Recherchen anfängt. Dabei stellt sie fest, dass ihre geliebte Schwester, die so gut zu kennen glaubte, schon lange ein Leben führte, dessen Details sie jetzt überraschen. Hatte Nushin doch wieder mit der Sexarbeit angefangen? Warum hatte sie zu alten Freunden und Lovern gehalten, Kontakte, von denen Nas nichts wusste? Nas und ihre Nichte unterstellen sich zugleich gegenseitig, Dinge über die tote Schwester und Mutter zu verheimlichen, was zu Spannungen führt. Erst nach und nach offenbart sich Nas die ganze Geschichte. Ihre Schwester scheint Teil einer radikalen politischen Aktion gewesen zu sein – und eine Gefahr bekämpft zu haben, die sie alle betrifft. Es geht um Rassismus, rechte Gewalt und Sexismus, um Missbrauch und Traumatisierungen. Der Roman leuchtet Ecken aus, die viele nicht kennen und viele nicht alle sehen wollen. Vor allem aber geht es um Liebe und Solidarität, um eine große Geschwisterliebe und die Frage, wo man zuhause ist, wenn das kein Ort sein kann. Und das alles in einer sehr gelungenen Mischung aus Straßen- und Szeneslang und poetischer Sprache. Empfehlenswert!
Motörhead
Charly Hübner ist nicht nur einer der herausragendsten Schauspieler des Landes, der zudem mit der kongenialen Verfilmung des Thees Uhlmann…
Charly Hübner ist nicht nur einer der herausragendsten Schauspieler des Landes, der zudem mit der kongenialen Verfilmung des Thees Uhlmann Romans „Sophia, der Tod und ich“ sein sehr erfolgreiches Debüt als Spielfilmregisseur in die Kinos gebracht hat, sondern er ist auch ein absoluter leidenschaftlicher Musikfan. Er hat eine Doku über Feine Sahne Fischfilet gedreht, arbeitet an einer über Element of Crime, taucht in einem Video der Toten Hosen auf und hat ein ganz wunderbares Buch über Motörhead geschrieben, die Band, die sozusagen in jungen Jahren sein Leben gerettet und verändert hat und die ihn heute noch vor Dreharbeiten auf die richtige Betriebstemperatur bringt (etwa mit dem Song „Overkill“). Im Buch trifft er am Teufelsstein im Süden Mecklenburgs den Teufel, der ihn mit auf eine Zeitreise nimmt, auf der seine Leidenschaft für Lemmy & Co ergründet werden soll. Wir verstehen, wie das hibbelige Kind diese „lauteste Band der Welt“ als Erlösung begrüßt, weil sie die Energie bündelt und mit ihrem Lärm die kalte Welt auf Abstand hält. Es ist, wie Lemmy einst postulierte: Mit der Musik Teil der Welt werden, aber immer auch draußen bleiben! Sie ist ein Ventil für die Wut, das Unverständnis, die Ratlosigkeit und die Angst in den Jahren als Jugendlicher – und auch danach. Es geht um die Befreiung, Emanzipation und Identitätsfindung durch Musik. In Wacken sieht er Lemmy 2013 einmal kurz auf der Bühne, wenig später ist der Frontmann tot. Aber dafür gibt es ja die Literatur, und so trifft der Autor dank des Teufels Lemmy im Buch endlich zu einem langen Gespräch und ein paar „Jack und Coke“. Das kleine Büchlein ist eine sehr gelungene, anrührende Mischung aus einer großen Liebeserklärung an „Motörhead“ und einer wunderbaren literarischen Biographie.
MTTR
Fasziniert verfolgten die Gäste im vollen Lesesaal dem energiegeladenen Vortrag von Julia Friese, die in ihrem Debütroman „MTTR“ ihre schwangere…
Fasziniert verfolgten die Gäste im vollen Lesesaal dem energiegeladenen Vortrag von Julia Friese, die in ihrem Debütroman „MTTR“ ihre schwangere Protagonistin Teresa Borsig einem nicht enden wollenden Trommelfeuer aus Zumutungen aussetzt. Der Autorin gelingt es mit ihrer extrem schnellen, direkten, pulsierenden Sprache eindrucksvoll, den Druck, der auf der Protagonistin lastet, für die Leser kongenial zu übersetzen. „MTTR“ ist übrigens ein technischer Fachbegriff („Mean Time To Repair“), der die mittlere Reparaturzeit für ein kaputtes System bezeichnet. Und kaputt ist hier fast alles. Teresa will eigentlich kein Kind, vor allem, weil sie Angst hat, so zu werden wie ihre empathielosen, von äußeren Zwängen und unhinterfragten Konventionen getriebenen und verkorksten Boomereltern. Sie will alles richtig machen. Und wenn Erinnerungen an ihre eigene Kindheit aufflackern, geht es meist um Gefühlslosigkeit, Distanz und sogar Schläge. Selbst bei kürzesten Treffen schaffen die Eltern es meisterlich, die Stimmung durch Gängelung, Besserwisserei und Gedankenlosigkeit unter den Nullpunkt zu jagen. Als sich Teresa entschließt, das Kind trotzdem zu bekommen, erlebt sie die Institutionen und Menschen, die sie dabei aufsuchen muss – Krankenhäuser, Ärztinnen, Ämter, Beamte – als eine Verlängerung der Elternwelt, die hauptsächlich aus Boshaftigkeiten, Aggressionen, Bevormundungen und Kälte zu bestehen scheint. Es kommt ihr vor, als ob das ganze Land noch von einem kaputten Nachkriegsgeist beherrscht sei, überall prallt sie vor die unsichtbaren Mauern aus traditionellen Lebensentwürfen und überholten Konventionen – aber davon lässt sie sich nicht aufhalten. Ihr Kampf um Selbstbehauptung und Emanzipation lässt niemanden kalt.
Natürlich kann man hier nicht leben
Özge Inan führt uns mit ihrem Roman „Natürlich kann man hier nicht leben“ tief in den schwierigen Alltag der Türkei…
Özge Inan führt uns mit ihrem Roman „Natürlich kann man hier nicht leben“ tief in den schwierigen Alltag der Türkei vor allem in den 80er, 90er Jahren. Die in Deutschland geborene Nilay, Tochter türkischer Eltern, sieht im Fernsehen 2013 die Proteste im Istanbuler Gezi Park, ein Gefühl von Revolution liegt in der Luft, sie will sofort hin, mitmischen, zum Flughafen. Ihr Bruder Emre winkt ab, sie solle sich beruhigen, sie sei von hier (Deutschland), nicht von da (Türkei). Aber davon will sie nichts wissen. Der Roman führt uns dann in die 80er Jahre, wir lernen die damals noch jungen Eltern kennen, den Vater Selim und die spätere Mutter Hülya. Bei sind politisch aktiv und erleben, wie der türkischen Zivilgesellschaft nach dem Putsch von 1980 langsam die Luft abgeschnürt wird. Einerseits werden tausende kurdische Dörfer zwangswese geräumt, andererseits beschneiden die Militärs immer stärker den Handlungsspielraum von Opposition, Gewerkschaften, Studenten, Medien. Als Selim in einer Redaktionskonferenz ein aus Militärsicht heikles Thema vorschlägt, verrät ihn ein Kollege. Es drohen 5 Jahre Haft. Hülya ist schwanger. Sie wollen heiraten. Aber mit diesen Zukunftsaussichten? Wir erleben hautnah, was es heißt, unter Diktaturbedingungen die eigene Machtlosigkeit zu erfahren. Es geht um Solidarität und Freundschaft, um Angst und Verrat, um Liebe und Fluchtgedanken – denn will man so leben, selbst wenn man sein Land liebt? Spannend!
Nochmal Deutschboden
Moritz von Uslar liest beim Writers‘ Thursday aus seinem aktuellen Buch „Nochmal Deutschboden“: Zehn Jahre nach seiner „teilnehmenden Beobachtung“ in…
Moritz von Uslar liest beim Writers‘ Thursday aus seinem aktuellen Buch „Nochmal Deutschboden“: Zehn Jahre nach seiner „teilnehmenden Beobachtung“ in der Kleinstadt Zehdenick in der brandenburgischen Provinz kehrt er zurück und will von allen wissen, was sich verändert hat, wer sich wie verändert hat – und warum. Wie war das, wie ist das hier mit den Rechten, mit dem Rassismus, der AfD? Mit der Langeweile und dem Alkohol? Er redet mit früheren Schlägern und Opfern, mit rechten und linken Skinheads, mit Flüchtlingen und den ganz normalen Tresenhockern und Trinkern in seiner Lieblingskneipe. Und legt dabei sozusagen die ganze (ost-) deutsche Provinz auf den Seziertisch.
Nullerjahre
Beim Writers´ Thursday lieben wir coole Bücher und Musik – und schreibende Musiker (gelesen haben hier schon: Flake, Sven Regener,…
Beim Writers´ Thursday lieben wir coole Bücher und Musik – und schreibende Musiker (gelesen haben hier schon: Flake, Sven Regener, Lady Bitch Ray, Westbam, Alexander Hacke, Inga Humpe, Tobias Bamborschke, Dirk von Lowtzow u.v.m.). Diesmal hatten wir Hendrik Bolz mit seinem grandiosen Debüt „Nullerjahre“ zu Gast, der vielen als „Testo“ und damit als eine Hälfte des Rap-Duos „Zugezogen Maskulin“ bekannt sein dürfte. „Nullerjahre“ ist harter Stoff aus Stralsund. Da wuchs Hendrik auf, der Ende der 80er Jahre geboren wurde. In den Plattenbauten des Viertel Knieper West sind die Erwachsenen seit der Wende desillusioniert, auf den Straßen herrscht für die Jugendlichen Krieg. Die „Baseballschlägerjahre“ der 90er mögen „offiziell“ vorbei sein, die Gewalt ist es nicht – statt Böhze Onkels dröhnt nur Aggro Berlin aus den Boxen. Bolz beschreibt eine grausam archaische Welt, in der Rassismus, Antisemitismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit das Grundrauschen liefern (weswegen am Anfang des Buches eine Warnung vor expliziter Sprache steht, die tatsächlich angebracht ist) und Hakenkreuze und Schläger-Nazis im brutalen Alltag integriert sind. Der Erzähler versucht, in dieser feindlichen Welt so gut es geht zu leben und überleben, beschreibt eindringlich, wie der Terror des „Blickgeficke“ („Was guckst du so?“) und der Ekel vor der eigenen Schwäche, das Gefühl der Angst und Demütigung zu unfassbarer Ohnmacht und Wut führt. Und aus Opfern manchmal auch Täter macht. Bolz schreibt gnadenlos über sich selbst: “Ich habe gedemütigt, ich habe zugeschlagen. Das war kein schlimmer Traum, kein finsteres Märchen, das war ich.“ Das Buch mit seinem knallharten Beat ist ein erzählerisches Meisterstück, das Einblicke in eine Welt gibt, die viele lieber nicht wahrnehmen wollten und wollen und beim Lesen nicht nur bei denen zu Schweißausbrüchen führt, die Straßengewalt aus eigener Erfahrung kennen.
O Brother
Der Schriftsteller John Niven schreibt schonungslos über die größte Tragödie seines Lebens - den Selbstmord seines Bruders und die Frage: Hätte er ihn retten können?
Der schottische Bestsellerautor John Niven – vielen vor allem durch seinen internationalen Erfolg „Kill Your Friends“ ein Begriff – kam extra für diesen Abend aus London, um „O Brother“ vor dem Erscheinen in Deutschland beim Writers´ Thursday zu präsentieren. In England ist das Werk ein Sunday-Times-Top-Ten-Bestseller. Es ist ein Memoir, das persönlichste, das härteste und bewegendste Buch, das Niven geschrieben hat. Es geht um eine große Tragödie, um seinen Bruder Gary, der 2010 im Alter von 42 Jahren an den Folgen eines Selbstmordversuches starb. Zu dem Zeitpunkt litt er an chronischen Höllenkopfschmerzen, Höllenschulden und lebte ein Höllenleben, das von Alkohol, Drogen und Knast bestimmt worden war. Niven untersucht in seinem Buch, wie zwei Brüder aus einer einfachen Arbeiterfamilie, die unter gleichen Bedingungen aufgewachsen sind, so verschiedene Leben führen konnten. Wie konnte aus dem lustigen, agilen, sensiblen Gary der harte Typ werden, der abgezockte Drogendealer, der für eine alberne Ganovenehre drei Jahre im schlimmsten Knast Schottlands verbrachte? Es geht um ein Aufwachsen in der schottischen Provinz, um die Bedeutung von Punk, Rave und Drogen – das Buch ist eine rasante Schussfahrt durch das englische Nachtleben und eine schonungslose Aufarbeitung der Frage: Hätte John Niven seinen Bruder retten können? Wo war er zu träge, zu faul, zu desinteressiert an dessen Schicksal? Er geht brutalst mit sich ins Gericht. Es gibt Stellen, die man kaum erträgt, etwa, wo er darüber sinniert, ob es nicht vielleicht besser für alle sei – für Gary selbst und alle in seiner Umgebung –, dass der Bruder tot ist. Es geht um Fragen, die nie beantwortet werden können und alle, die weiterleben, ein Leben lang verfolgen. Denn, so Niven: „Selbstmord ist das Tschernobyl der Seele, seine zerstörerische Kraft hört nie auf!“ Erschütternd.
Patti Smith
Helene Hegemann hat beim Writers´ Thursday aus ihrem neuen, bisher unveröffentlichten Buch „Patti Smith“ gelesen, das Anfang Oktober erscheint. Wobei…
Helene Hegemann hat beim Writers´ Thursday aus ihrem neuen, bisher unveröffentlichten Buch „Patti Smith“ gelesen, das Anfang Oktober erscheint. Wobei der Titel „Patti Smith“ die literarische Untertreibung des Jahres sein dürfte. Denn das ist nicht einfach nur ein extrem scharfsinniger Text über die weltbekannte Musikerin, Poetin, Autorin, Künstlerin, die, wie es an einer Stelle heißt, phasenweise leider auch als das „spirituelle Maskottchen der Hochkultur“ dient und die sie einst unverhofft und zunächst unerkannt in jungen Jahren einmal Backstage getroffen hat, sondern es ist vor allem auch ein Buch über Christoph Schlingensief, der ihr in einer ersten Begegnung als Jugendliche wie eine „Mischung aus Jesus und Ruhrpott Hausmeister“ erschien, über seine unkonventionelle, extrem inspirierende Haltung zum Leben und zur Kunst – und wie gerade auch diese Haltung Helene Hegemann geholfen hat, aus einer tiefen Krise ins Leben zurückzufinden. „Patti Smith“ ist ein furioser, mitreißender, bewegender und abschnittsweise mal sehr analytischer, mal sehr persönlicher Text über zwei ganz besondere Künstler und Menschen, über die Kraft der Kunst und die überlebenswichtige und richtige Haltung zum Leben. Wer danach nicht sofort Musik von Patti Smith hören und alle Videos und Filme und Stücke von und mit Christoph Schlingensief studieren will, dem oder der ist dann auch nicht mehr zu helfen.
Pudels Kern
Der Kampf des jungen Künstlers aus dem Ostseedorf, in Hamburg eine eigene künstlerische Identität aufzubauen, hin- und hergerissen zwischen Abstürzen, Höhepunkten und schwärzesten Depressionen. Eine rasante Schussfahrt durch die Nacht.
Das legendäre Multitalent Rocko Schamoni las beim Writers´ Thursday aus seinem brandaktuellen Werk „Pudels Kern“, das erst im April offiziell erscheinen wird. Es geht um die Zeit Ende der 80er, Anfang der 90er in Hamburg. Ein junger Mann aus einem Ostseedorf (den manche noch aus seinem grandiosen Bestseller-Debüt „Dorfpunks“ kennen) hat die Lehre als Keramiker beendet und stürzt sich in das Szeneleben Hamburgs. Eben noch ehrfürchtig die Hardcorepunker der Gruppe Slime gehört, jetzt steht er plötzlich neben den Musikern in der Kneipe. Tagsüber arbeitet er als Zivildienstleistender beim Hamburger Spastikerverein, nachts zieht er durch die Gemeinde. Er sucht seine Rolle als Musiker und im Leben wie ein manisch Getriebener, hin und her gerissen zwischen zwei Polen: Einerseits will er das Sein erkunden, Erkenntnis und Sinn finden, andererseits geht es um Action, Ablenkung, Abfahrt, Irrsinn. Er, der „in der Familie schon früh kein Zuhause mehr gesehen“ hat, weiß nie: „Bin ich eigentlich auf der Flucht oder auf der Jagd?“ Er geht bald schon auf Tour mit den Toten Hosen und den Goldenen Zitronen, er soll zum Bravo-Star aufgebaut werden, was nicht sein Ding ist, es ist ein Leben mit, in und durch die Kunst. Er erlebt unfassbare Abstürze, erbarmungslose Kater, schlimmste Depressionen und fällt nach Höhepunkten in tiefste seelische Löcher, in denen er nichts mehr spürt und sieht außer Selbstverachtung und Hoffnungslosigkeit. Wir erleben einen Helden, der einerseits die totale Freiheit genießt und andererseits an der totalen Haltlosigkeit leidet. Das Buch ist eine äußerst rasante, faszinierende und mit allen Dramen eine oft auch sehr lustige Schussfahrt durch das irre Nacht- und Künstlerleben, von der man gar nicht genug bekommen kann.
Relax
Wie gut ihr Erstlingswerk „Relax“ gealtert ist, bewies Schriftstellerin Alexa Hennig von Lange, die aus ihrem 1997 erschienenen Buch las.…
Wie gut ihr Erstlingswerk „Relax“ gealtert ist, bewies Schriftstellerin Alexa Hennig von Lange, die aus ihrem 1997 erschienenen Buch las. Alexa hat seitdem ein umfangreiches, preisgekröntes Werk aus Romanen, Erzählungen, Theaterstücken und hervorragenden Jugendbüchern vorgelegt (wofür sie beispielsweise den Deutschen Jugendbuchpreis gewonnen hat). In „Relax“ geht es um die Beziehung von Chris und der „Kleinen“ inmitten der wilden Feierstürme der wilden 90er, die ein Wochenende aus ihrer jeweiligen Perspektive beschreiben. Er geht feiern, das heißt vor allem: Drogen, Alkohol, Sex. Es wird geraucht, geschluckt und geschnieft, was gerade so auf dem Tisch liegt. Und nach solchen Exzessen mit seinen Freunden kommt er oft heim „breit wie ein Panzer“, wie „die Kleine“ bemerkt, die derweil zu Hause die Zeit totschlägt und, ganz bieder, von einer Heirat mit Chris in Las Vegas träumt und sich in seiner ewigen Abwesenheit zu oft mit Harald, ihrem Vibrator, trösten muss. Es ist eine bedröhnte Leere, eine dröhnende Beziehungslosigkleit, die so anrührend wie erschütternd, aber auch immer wieder extrem komisch ist und in ihrer beeindruckenden Oberflächlichkeit überwältigend authentisch wirkt. Das Buch ist definitiv die Mutter vieler Nachtlebenromane aus der Clubszene, die danach noch folgen sollten. Und wenn man es wieder aufschlägt, weiß man auch warum – damit wurden Maßstäbe gesetzt.
Roxy
Wie blickt man nach langer Zeit auf Freundschaften zurück, die man einst für die wichtigsten, besten hielt? Wie auf den…
Wie blickt man nach langer Zeit auf Freundschaften zurück, die man einst für die wichtigsten, besten hielt? Wie auf den Lebensweg von jenen, die man einst fast wie Brüder gesehen hat – und wie auf den eigenen? Wo waren die kleinen Brüche, die zu großen wurden, wo die Abzweigungen, die man auch hätte nehmen können? Und wie sehr war man am Ende dann doch Gefangener des eigenen Milieus, ohne das man sich dessen in seinem ganzen Ausmaß zu Jugendzeiten bewusst war? Diese fragen stellt Johann Bülow, einer der bekanntesten Schauspieler seiner Generation, in seinem bemerkenswerten Debütroman „Roxy“, aus dem er beim Writers´ Thursday in Hamburg las. Und darüber lässt er seine Hauptfigur Marc Berger nachdenken, der von Berlin nach München fährt – zur Beerdigung seines einst besten Freundes Robert, genannt Roy, Sohn eines bekannten Münchener Industriellen, mit dem er oft in der Disco „Roxy“ abhing. Es geht um die universelle Geschichte von Freundschaft, Erwachsenwerden, von Zwängen und Anforderungen der Kreise, in denen wir uns bewegen und die frage, wie man ihnen entkommen kann – und ob man ihnen überhaupt entkommen kann.
Samuels Buch
Der in Bulgarien geborene und aufgewachsene, vielfach preisgekrönte Samuel Finzi (Schauspieler des Jahres, Deutscher Schauspielpreis etc.) ist nicht nur einer…
Der in Bulgarien geborene und aufgewachsene, vielfach preisgekrönte Samuel Finzi (Schauspieler des Jahres, Deutscher Schauspielpreis etc.) ist nicht nur einer der erfolgreichsten und bekanntesten Schauspieler des deutschsprachigen Raumes (zuletzt im Kino an der Seite von John Malkovich in „Seneca“), sondern auch ein begnadeter Erzähler, wie er in seinem Debütroman „Samuels Buch“ beweist: Es geht um eine Jugend im sozialistischen Bulgarien der 70er + 80er, wo die Familie des Erzählers Samuel – der Vater ist erfolgreicher Schauspieler, die Mutter Pianistin – unter den Zwängen und den Beschränkungen des real existierenden Sozialismus ein Bohème-Leben versucht. Sie kämpfen um ihre künstlerische und private Freiheit: Jeder Ausflug ans Meer, das Tanzen, die Partys, der Spaß, das alles sind auch immer Demonstrationen gegen die staatliche Macht. Samuel lehnt die Beschränkungen des Systems intuitiv früh ab – und will auf die Bühne, will sich frei entfalten und Grenzen überwinden. Samuel Finzi erzählt in diesem Entwicklungsroman eine sehr warme Familiengeschichte, die zugleich und sehr unaufdringlich eine politische Landesgeschichte ist. Die feine Ironie und die liebevoll erzählten Anekdoten aus dieser gar nicht so fernen Welt ziehen einen sofort in den Bann.
Schlachtensee
Es ist immer wieder eine große Freude, wenn unsere Freundin Helene Hegemann beim Writers´ Thursday auftritt. Diesmal las die extrem…
Es ist immer wieder eine große Freude, wenn unsere Freundin Helene Hegemann beim Writers´ Thursday auftritt. Diesmal las die extrem produktive Schriftstellerin (zuletzt: „Bungalow“, „Patti Smith“) , Drehbuchautorin, Filmemacherin und Regisseurin aus ihrem Erählband „Schlachtensee“, in dem sie 15 höchst unterschiedliche Geschichten versammelt hat, die niemanden schonen. Es geht um das Sterben, um Liebe, Sex und Gewalt, große Leere und Beziehungen, die keiner richtig durchblickt. In größter Kälte werden emotionalste Momente beschrieben, es sind suchende Figuren, die sich manchmal der Banalität ihres Lebens – obwohl oberflächlich teilweise sehr erfolgreich – bewusst zu sein scheinen, die alle ein bisschen verloren sind und gegen dieses Gefühl ankämpfen. Sie wissen nicht genau, was sie wollen, nur eins: Sie wollen anders sein als die anderen. Scheinbar absurde Ereignisse, schlaue Reflexionen und grotesker Humor machen das Buch zu einem einzigartigen Lesevergnügen. Unvergessen bleibt etwa der Pfau, der sein Rad verloren hat und deswegen dauernd nach vorne kippt, weil er nicht versteht, dass er kein Gewicht mehr auszugleichen hat. In Hamburg las Helene eine Erzählung, in der es um riesige Wildschweine geht, die aussehen wie Zeppeline auf Kokain, um Geburtstagskinder, die in seltsamen Substanzen Bäder nehmen – vor allem aber um einen Auftritt der Band Iron Maiden Auftritt im umkämpften Sarajevo. Großartig.
Schön ist die Nacht
Mit seinem erschütternden Buch „Ein Mann seiner Klasse“ über seine Jugend in Kaiserslautern in den 90er Jahren mit einem alkoholabhängigen…
Mit seinem erschütternden Buch „Ein Mann seiner Klasse“ über seine Jugend in Kaiserslautern in den 90er Jahren mit einem alkoholabhängigen und gewalttätigen Vater und in prekärsten Verhältnissen hat Christian Baron hierzulande ein Thema in die Öffentlichkeit gebracht, das viele lange nicht wahrnehmen wollten – und viele noch immer lieber kleinreden oder ignorieren würden: absolut entwürdigende Armut im Wohlstandsland Deutschland. Beim Writers´ Thursday las der Autor jetzt aus seinem großartigen neuen Roman „Schön ist die Nacht“, in dem er die Geschichte seiner beiden Großeltern fiktionalisiert hat. Es geht um eine lebenslange Freundschaft zwischen zwei Männern, die gerne ihrem Milieu entkommen würden, aber immer wieder vor die unsichtbaren gesellschaftlichen Gitterstäbe knallen. Willy, der Zimmermann, versucht in den 70er Jahren unter den schwierigen Umständen und drohender Arbeitslosigkeit wenigstens mit maximalem Anstand durchs Leben zu gehen, Horst neigt mehr zu kleinkriminellen Verhalten – wo er manchmal auch Willy hineinzieht – und Gewaltausbrüchen, immer wieder auch gegenüber den Kindern. Es geht um die große Lüge des Aufstiegsversprechen der jungen Bundesrepublik, um die Unerfüllbarkeit ihrer Träume von ein bisschen Sicherheit, Liebe, Wohlstand. Und immer wieder auch um wichtige Bezugspunkte ihres Lebens – Kneipen, Alkohol, Fußball. Es ist ein oftmals trostloser, energiefressender Abwärtsstrudel, in dem sie sich aneinanderklammern wie Ertrinkende. Und trotz aller Strampelbewegungen entkommen sie nicht ihrer Klasse. Dass Christian dabei auch die schönsten Sprachmarotten der damaligen Zeit und seiner alten Heimat – „Sabberrinne“, „Riechpriemen“, „mein alter Freund und Kupferstecher“ – auf natürlichste Art einfließen lässt, ist nur einer von vielen faszinierenden Aspekten der Geschichte. Ein tolles, wichtiges Buch!