Buchtipps

Buchempfehlungen von Rainer Schmidt (in alphabetischer Reihenfolge der Buchtitel)

Wir waren wie Brüder

von Daniel Schulz, Hanser Berlin

Daniel Schulz hat einen beeindruckenden und teilweise verstörenden Roman über einige Aspekte der Wiedervereinigung geschrieben, die viele im Westen lange…

Daniel Schulz hat einen beeindruckenden und teilweise verstörenden Roman über einige Aspekte der Wiedervereinigung geschrieben, die viele im Westen lange lieber verdrängt haben (oder noch immer ignorieren) – über die Gewalt, Hoffnungslosigkeit und Härte in den Jahren nach der Wende im Osten Deutschlands. In „Wir waren wie Brüder“ beschreibt der anfangs 10jährige Erzähler, wie er nach dem Mauerfall erwartete, dass nun die Faschisten und Imperialisten das Land übernehmen – und er deswegen am liebsten die Panzer losgeschickt hätte, die sein Vater als Offizier der NVA befehligte. Es folgt für seine Eltern und deren Freunde eine Zeit der Arbeitslosigkeit, Orientierungslosigkeit, es kommt sogar zu Selbstmorden, weil einige nicht weiterwissen. Auf den Straßen verbreiten zugleich junge Neonazis Angst und Schrecken – es scheint, als führe die Passivität der Väter, die plötzlich ohne Arbeit und Perspektive dastehen, zur Aggression der Söhne. Härteste antisemitische, homophobe, sexistische Sprüche werden normal – am Anfang des Romans, der diese authentisch wiedergibt, steht extra eine Warnung. Die Nazi-Schläger verbreiten Terror auf der Straße, auch gegen den Erzähler, der mit seinen längeren Haaren und der leicht pummeligen Statur zur Zielscheibe wird. Er will aber nicht immer Opfer sein, der Boxsack der harten Jungs. Er will ein Rudel und ein bisschen Sicherheit. Mit unauffälliger Kleidung und taktischen Freundschaften auch zu Rechten versucht er, sich Ruhe zu erkaufen und unbeschadet zu überleben in diesem “barbarischen Jahrzehnt“, in dem überforderte ehemalige Volkspolizisten wegschauen, wenn die Nazis wieder zuschlagen oder „Zecken klatschen“ gehen. Es ist eine archaische, aus den Fugen geratene Welt, in der teilweise ein brutaler Überlebenskampf tobt, den Daniel Schulz auf eindringlichste Weise sehr einfühlsam beschreibt.

Wovon wir träumen

von Linn Hirse, Piper

Lin Hierse erzählt in ihrem Debütroman „Wovon wir träumen“ die Geschichte einer Deutsch-Chinesin Mitte 20 in Berlin, deren chinesische Mutter…

Lin Hierse erzählt in ihrem Debütroman „Wovon wir träumen“ die Geschichte einer Deutsch-Chinesin Mitte 20 in Berlin, deren chinesische Mutter vor mehr als zwei Jahrzehnten der Volksrepublik den Rücken gekehrt hatte, weil sie von einem anderen Leben in der Bundesrepublik träumte. Es geht um eine komplexe und emotional vielschichtige Mutter-Tochter-Beziehung, vor allem aber um ganz existenzielle Fragen: Wer bin ich, wo gehöre ich hin, was macht mich aus? Wie ist das, wenn man sich nirgends zu Hause fühlt? Die junge Frau lernt Chinesisch, um ihre Verwandten bei China-Besuchen zu verstehen, andererseits lebt sie ihr Leben in Berlin. Die chinesische Großmutter und die deutsche Oma sind wichtige Bezugspunkte, beide von jeweiligen Gewalterfahrungen geprägt: Die chinesische Großmutter hat Gewalt durch japanische Besatzungssoldaten erfahren, die deutsche musste einst vor der Sowjetarmee fliehen. Beides zusammen wird so auch zur Geschichte der Erzählerin, die ihre Haare extra kurz trägt und raucht aus Trotz, um der Mutter ihre Selbständigkeit zu beweisen. Eigentlich will sie aber alles richtig machen und niemanden zur Last fallen, alles alleine schaffen, bis sie nicht mehr weiß, wie man jemand sagt, dass sie auch mal jemand braucht. Völlig fertig ist sie, als die Mutter tief in ihrer Wunde rührt und ihr vorwirft: „Das ist, weil du keine echte Chinesin bist. Familie ist dir egal!“ Der ganze Zweifel der jungen Frau als gemeiner Vorwurf. Es geht um Identität, Einsamkeit, Fremdheit, Abgrenzung und Zugehörigkeit. Und das ist in einer bezaubernd zarten, behutsamen, einfühlsamen, tastenden Sprache gelungen, die einen sofort ummantelt und einschließt. Migration als Ergebnis von Träumen, nicht als Abfolge von Traumata, auch davon erzählt taz-Redakteurin Lin Hierse trotz aller Schwierigkeiten in ihrem einfühlsamen Werk.

Zweistromland

von Beliban zu Stolberg, Kanon

Die Drehbuchautorin Beliban zu Stollberg stellt in ihrem bemerkenswerten Debütroman „Zweistromland“ Fragen, die weit über die konkret erzählte Geschichte hinausgehen:…

Die Drehbuchautorin Beliban zu Stollberg stellt in ihrem bemerkenswerten Debütroman „Zweistromland“ Fragen, die weit über die konkret erzählte Geschichte hinausgehen: Muss man eigentlich seine eigene wahre Geschichte/Herkunft kennen? Was macht das mit einem, wenn man sie nicht kennt? Und was, wenn man feststellt, alles war ganz anders, als man bisher dachte oder erzählt bekommen hat? Und wirken Gewalterfahrungen möglicherweise über Generationen hinweg? Es geht um Dilan, die in Deutschland an der Nordseeküste geborene Tochter kurdischer Aleviten, die einst aus der Türkei in die Bundesrepublik geflohen waren. Warum, wurde nie wirklich erzählt. Die Eltern waren immer der Ansicht, man müsse nicht alles wissen und manchmal sei es für alle besser, nicht alles zu wissen. Als Dilan als Jugendliche einmal eine alte Kassette findet und heimlich abhört, wird klar, dass ihre Eltern möglicherweise einmal politisch sehr aktiv waren und der Vater in der Türkei Anwalt – wovon Dilan nichts wusste. Die Eltern wollen darüber nicht reden. Nach dem Tod der Mutter reist die schwangere Dilan 2016, die mit ihrem schwedischen Mann mittlerweile in Istanbul lebt, in den Osten der Türkei, nach Diyarbakir, der Hauptstadt der Kurden, wo kurz vorher noch ein Bürgerkrieg getobt hatte. Sie will endlich wissen, wer ihre Eltern wirklich waren. Sie stellt fest: Sie wusste praktisch nichts. Die Reise bringt einen völlig neuen Blick auf die Eltern, auf sich selbst und auf den immer etwas geheimnisvoll-seltsamen Bruder. Dilan bricht mit dem Schweigen und emanzipiert sich damit auf der Suche nach ihrer Identität. Eine starke Geschichte!

Zwischen Du und Ich

von Mirna Funk, dtv

Mirna Funk ist vielen als Autorin und Kolumnistin (Cosmopolitan, Vogue) bekannt, die sich genauso kompetent und prägnant zu Sexthemen wie…

Mirna Funk ist vielen als Autorin und Kolumnistin (Cosmopolitan, Vogue) bekannt, die sich genauso kompetent und prägnant zu Sexthemen wie zu Fragen jüdischer Identität äußern kann – und sich als moderne Feministin versteht, die gerade mit ihrem Sachbuch „Who cares – von der Freiheit, Frau zu sein“ in den Bestsellerlisten stand. Beim Writers´ Thursday hat Mirna aus ihrem Roman „Zwischen Du und Ich“ gelesen, ihr zweiter übrigens nach „Winternähe“. Es geht um Nike, eine Jüdin aus Ostberlin, die zwar täglich in ihrer Straße am Stolperstein der Urgroßmutter vorbeigeht, aber von Rosa, ihrer Oma, nie wirklich das über die Tote erfährt, was sie eigentlich interessiert. Über ihre Agentur bekommt sie einen Job in Tel Aviv, wo sie den israelischen Journalisten Noam lieben lernt, der ein eigenartiges Verhältnis zu seinem Onkel Asher hat, mit dem er zusammenlebt, obwohl der ihn nicht gut zu behandeln scheint. In Yad Vashem kann Nike einige ihrer Fragen zur Urgroßmutter klären, aber längst nicht alle – und es offenbart sich, dass auch der gerne so lässige Noam Geheimnisse mit sich herumträgt, die ihn stark prägen. In der leidenschaftlichen, komplizierten Affäre zwischen Nike und Noam geht es um die große Frage, wie stark wir alle eigentlich im Bann von Familientraumata stehen – und auch der eigenen, selbst erlittenen. Wie frei lassen uns unsere Familiengeschichten und Erfahrungen wirklich leben und lieben – kann man ihnen jemals entkommen? Das ist spannender, aber auch ernster, existenzieller Stoff, den Mirna Funk allerdings so beeindruckend leicht erzählt, dass man nur staunen kann.