Buchtipps

Buchempfehlungen von Rainer Schmidt (in alphabetischer Reihenfolge der Buchtitel)

Die Wahnsinnige

von Alexa Hennig von Lange, Dumont

Alexa Hennig von Lange nach Ihrer Lesung beim Writers´ Thursday im 1. OG, der diesmal wieder ohne Live-Publikum stattfand. Zuletzt…

Alexa Hennig von Lange nach Ihrer Lesung beim Writers´ Thursday im 1. OG, der diesmal wieder ohne Live-Publikum stattfand. Zuletzt war sie mit ihrem tollen Roman „Kampfsterne“ zu Gast gewesen, diesmal las sie aus ihrem neuen Buch „Die Wahnsinnige“. Es geht um Johanna von Kastilien, deren Mutter „Isabella, die Katholische“ ihr Reich mit unerbitterlicher Härte beherrscht und der sie auf dem Thron folgen soll. Aber Johanna betet nicht, beichtet nicht – und mag niemanden beherrschen. Und sie wehrt sich gegen die Zwänge und die Mischung aus Machtgier, Verrat, Betrug, Intrigen und Rücksichtslosigkeit, die alle anderen für normal zu finden scheinen. Und wegen dieser Haltung gilt sie schnell als ungeeignet für den Thron – und als verrückt. Alexa hat einen historischen Stoff gewählt, erzählt aber eigentlich eine moderne Geschichte: Wenn die Verhältnisse irre sind, ist dann derjenige verrückt, der sich gegen die Umstände wehrt, oder sind es vielmehr nicht jene, die sich daran gewöhnt haben, diese als normal anzuerkennen?

Doch

von Drangsal, Claassen

Es ist schon ein paar Jahr her, dass ein befreundeter Musikjournalist einen so begeisterten Artikel über Drangsal schrieb, den Musiker,…

Es ist schon ein paar Jahr her, dass ein befreundeter Musikjournalist einen so begeisterten Artikel über Drangsal schrieb, den Musiker, Singer und Songwriter, dass man sich sofort näher mit ihm beschäftigen musste, nur um festzustellen: Stimmt alles, der bedient sich so selbstbewusst und gekonnt aus dem Repertoire der jüngeren Pophistorie, dass man von den Ergebnissen sofort gebannt ist. Das hat er schon als Vorgruppe von „Die Ärzte“ oder in der Volksbühne als musikalische Begleitung einer Helene-Hegemann-Lesung bewiesen. In der Literatur zeigt er sich genau so mutig. In seinem ersten Buch („Doch“) sind 24 kleine Erzählungen, Miniaturen, Gedichte, Songtexte versammelt, einfühlsame, zarte, brutale und sehnsüchtige Texte, die einen von einem Gefühlszustand in den nächsten katapultieren. Es geht um die Suche nach Identität, Wärme, Verständnis, Erfüllung und die Emanzipation eines Jungen, der anders ist, unter widrigen Umständen. Ein Teil ist autobiografisch geprägt, von Drangsal Heranwachsen in der nicht immer einfachen pfälzischen Provinz, einem harten Trucker-Vater, dunklen Kaschemmen und viel Alkohol, der in seiner familiären Umgebung konsumiert wird. Andere Stücke sind rein fiktional, andere wiederum pure Poesie. Man lernt den Unterschied kennen zwischen einem Knightrider und einem Himbeer-Toni, erfahren, was es mit dem Dopsen auf sich hat und warum der arme Rotating Boy seine letzte Lebensrunde dreht. Beeindruckend!

Dreck und Glitzer

von Tex Brasket, Kiepenheuer & Witsch

Der Musiker Tex Brasket las aus seinem Buch, „Dreck und Glitzer. Eine Geschichte von der Straße und vom Licht an…

Der Musiker Tex Brasket las aus seinem Buch, „Dreck und Glitzer. Eine Geschichte von der Straße und vom Licht an dunklen Orten“, das er mit Journalist Christian Schlodder geschrieben hat. Tex Brasket ist der neue Sänger der legendären deutschen Punkband SLIME („Deutschland muss sterben“), sein Buch ein Protokoll seiner harten Biografie und seiner quasi märchenhaften Rettung: Er wurde als drogenabhängiges Kind einer drogenabhängigen amerikanischen Mutter in Texas geboren und zur Adoption freigegeben – an ein deutsches Paar in den USA. Der leibliche Vater wurde wegen Totschlags am neuen Partner der leiblichen Mutter verurteilt. Tex wuchs in Bayern auf, wo allmählich die Folgen der Drogen klar wurden: Verdacht auf ADHS, bipolare Störung, Borderlinesyndrom, posttraumatische Belastungsstörung. Als Jugendlicher wieder in die USA, später wieder nach Deutschland. Ohne  Abschluss Jobs vom Pferdepfleger bis zum Ökobauer. Dazu Suchtprobleme: Alkohol Kokain, Amphetamine, auch mal Heroin. Einzige Konstante: die Musik. Seit dem 12. Lebensjahr schrieb er Songs. 2016 landet er arbeitslos und obdachlos in Berlin auf dem Fußgängerüberweg „Langer Jammer“. Eine junge Frau filmt, wie er seinen Song „Parkbank in Treptow“ spielt. Das Video geht viral. Angebote prasseln rein, auch unseriöse, irgendwann landet er im Studio des Gitarristen von Slime. Die Band sucht  gerade einen neuen Sänger. Und plötzlich steht der eben noch obdachlose Tex Brasket in Wacken vor 40 000 Zuschauern. Anfangs übergibt er sich vor Aufregung vor und nach jedem Gig. „Dreck und Glitzer“ ist eine brutal harte, erschütternde, bewegende Geschichte, die extra Spannung dadurch erfährt,  dass Tex seine Sicht der Dinge darlegt und Schlodder in getrennten Texten eine eigene Perspektive darlegt. Mit dem Musiker Lucas Uecker bildet Tex Brasket neben Slime die Formation: Teluxe. Mit dieser trat er beim Writers´ Thursday Special im Theater des Westens auf.

Drei Schwestern

von Christian Baron, Claassen

Der Roman „Drei Schwestern“ ist das dritte Buch von Christians fiktionalisierter autobiografischen Familientrilogie. Am Abend vor dem Writers´ Thursday hatte…

Der Roman „Drei Schwestern“ ist das dritte Buch von Christians fiktionalisierter autobiografischen Familientrilogie. Am Abend vor dem Writers´ Thursday hatte die Verfilmung seines ersten Buches („Ein Mann seiner Klasse“) die Preise für bester Film und bester Hauptdarsteller beim Fernsehpreis gewonnen. Sensationell! Glückwunsch! Christian hat harte Armut im Wohlstandland Deutschland mit erschütternden und präzisen Milieubeschreibungen in die deutsche Gegenwartsliteratur eingeführt. So auch in „Drei Schwestern“. Hier geht es um Juli, Mira und Ella und ihren anstrengenden Kampf um Liebe, Sicherheit und ein bisschen Glück unter schwierigsten Bedingungen in Kaiserslautern. Ella hat den Sprung aus ihrer Klasse durch Heirat fast geschafft und hält eher Distanz zur alten Familie. Juli, die Jüngste, versucht hartnäckig, ihre Schwester sensible Mira von einer Beziehung von Ottes abzuhalten, der erst beim Bund ist und dann als Möbelpacker arbeitet, gerne trinkt und zu Gewalt neigt. Aber Mira sieht in ihm mehr als das und hält zu ihm, auch nach einer kurzen Flucht ins exotische Berlin, wo sie in einer WG mit akademischen Bürgerkindern fremdelt und sich schnell wieder nach Kaiserslautern wünscht. Es geht um die große Lüge des bundesrepublikanischen Aufstiegsversprechen, um Klassengrenzen, Klassengesetze, Alkohol, Gewalt und Ressentiments. Um die Sehnsucht nach ein bisschen Normalität und ökonomischer Stabilität. Und darum, dass das Glück für andere manchmal anders aussieht, als man selbst denkt. Beeindruckend!

Dschinns

von Fatma Aydemir, Hanser

Völlig zu Recht stand Fatma Aydemir mit ihrem Roman „Dschinns“ auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, den sie von…

Völlig zu Recht stand Fatma Aydemir mit ihrem Roman „Dschinns“ auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis, den sie von mir aus damit auch gerne hätte gewinnen können, denn das Buch ist nicht nur ein echtes Lesevergnügen und ein phänomenales Familienporträt, sondern zugleich ein großer Gesellschaftsroman, der ein selten vielschichtiges Bild der Bunderepublik Ende der 90er Jahre (und darüber hinaus) entwirft. Familienvater Hüseyin erfüllt sich nach 30 Jahren Arbeit in Deutschland seinen großen Traum und kauft sich und der in Deutschland lebenden Familie eine Eigentumswohnung in Istanbul. Am Tag des Einzugs stirbt er in der Wohnung, fern von seinen Liebsten, in genau dieser Wohnung. Seine Frau Emine und die vier Kinder sollen so schnell es geht nach Istanbul reisen, um ihren Mann und Vater zu beerdigen. Fatma gibt den Beteiligten jeweils eine eigene Stimme und lässt sie die Ereignisse und Familiengeschichte aus ihrer jeweiligen Perspektive schildern. Da ist Tochter Sevda, die mit ihren Kindern vom Ehemann getrennt lebt; Tochter Peri ist Uni-Aktivistin, der jüngste Sohn Ümit hadert damit, dass er sich zu Jungen hingezogen fühlt, was anscheinend nicht alle wahrhaben und akzeptieren wollen, der älteste Sohn Hakan neigt zu leicht kriminellen Aktivitäten und macht sich per Auto auf den Weg. Diese Stimmen sind alle extrem überzeugend unterschiedlich und reißen jede für sich ganz neue Welten und Weltsichten auf. Es geht um Träume und Traumata des Gastarbeiter-Vaters in Deutschland, um Kinder, die einst in der Türkei (zeitweise) zurückgelassen wurden, um das Schweigen und die Ohnmacht der Eltern angesichts der oft feindseligen Umstände in der neuen deutschen Heimat – und darum, wie die Kinder kämpfen, damit umzugehen. Aber auch ganz einfach um die jeweils eigenen banalen und komplizierten Leben und um Geheimnisse, die jeder vor der Familie zu verbergen versucht. Ein großartiges Buch. („Dschinns“ sind übrigens unsichtbare Wesen, Geister, die die Welt bevölkern und jederzeit Besitz von uns ergreifen können…).

Dschungel

von Friedemann Karig, Ullstein

Wer vom ersten Kapitel nicht sofort reingezogen wird, hat es nicht gelesen: Friedemann Karigs Roman „Dschungel“: „The Beach“ meets „Auerhaus“.

Wer vom ersten Kapitel nicht sofort reingezogen wird, hat es nicht gelesen: Friedemann Karigs Roman „Dschungel“: „The Beach“ meets „Auerhaus“.

Düsternbrook

von Axel Milberg, Piper

Als Kieler „Hauptkommissar Klaus Borowski“ (Tatort) kennt ihn jeder, als Autor hat Schauspieler Axel Milberg den schönen, autobiografisch gefärbten Roman…

Als Kieler „Hauptkommissar Klaus Borowski“ (Tatort) kennt ihn jeder, als Autor hat Schauspieler Axel Milberg den schönen, autobiografisch gefärbten Roman „Düsternbrook“ geschrieben, benannt nach dem gleichnamigen Viertel in Kiel.

Ein Sohn von zwei Müttern

von Franz Dobler , Klett & Cotta

Der bayerische Bub erfährt früh, dass er neben seiner "Mama" noch eine leibliche Mutter hat. Aber es dauert Jahrzehnte, bis er es genauer wissen will.

In „Ein Sohn von zwei Müttern“ erzählt Franz Dobler – preisgekrönter Schriftsteller, Krimiautor und Musikexperte – die faszinierende, autobiografisch geprägte Geschichte eines Jungen, der in den 60er/70er Jahren in Bayern aufwächst und dem die Nachbarskinder erzählen, er sei ein Adoptivkind. Das beschäftigt das Kind nicht groß, für ihn bleiben seine „Mama“ und der „Papa“ seine ihn liebenden Eltern – das wird sich nie ändern. Auch sprachlich nicht: Die „Mama“ ist die Adoptivmutter, die leibliche „Mutter“ wird „Mutter“ genannt. Erst viel später will er Genaueres wissen. Die „Mutter“ wohnt mittlerweile in New York mit neuer Familie und Kindern, die nichts von ihm ahnen. Er erfährt, dass sein leiblicher Vater ein persischer Austauschstudent ist, ein One-Night-Stand, zu dem es keinen Kontakt gibt, was ihn nicht stört. Im Buch sitzt der Adoptivsohn als älterer Mann mit Frau und erwachsener Tochter im Flugzeug nach New York, um – nach dem Tod der Adoptivmutter – seine leibliche Mutter zu treffen. Während des Fluges tauscht er sich immer mit seiner Frau über seine Geschichte aus. Auf einer zweiten Erzählebene wird geschildert, wie er sich seiner Geschichte im Laufe der Jahrzehnte nähert. Wie er einmal Angst bekommt, ein Serienkiller zu werden, weil viele solcher Täter Adoptivkinder waren. Wie er eine Selbsthilfegruppe für Adoptivkinder sofort wieder verlässt, weil er sich fern der Probleme fühlt, die andere dort schildern. Er fühlt sich nicht traumatisiert oder schlechter behandelt, hadert nicht mit seiner Geschichte. Und fragt sich doch immer selbstkritisch, was echte Erinnerung ist und was vielleicht nur Verdrängung. Das hochspannende, unpathetische Buch stellt allen wie nebenbei ganz grundsätzliche Fragen: Was ist Herkunft, was Identität, welche Rolle spielen Eltern und Blutsverwandtschaft, welche Liebe und Fürsorge – und wie geht man damit um, wenn die eigene Biografie keine konventionelle ist? Das packt jeden!

Ein Sommer in Niendorf

von Stephan Benson, Heinz Strunk, Rowohlt

Obwohl Heinz Strunk bedauerlicherweise wenige Stunden vor dem Writers´ Thursday krankheitsbedingt leider absagen musste, wollte wir unbedingt seinen für den…

Obwohl Heinz Strunk bedauerlicherweise wenige Stunden vor dem Writers´ Thursday krankheitsbedingt leider absagen musste, wollte wir unbedingt seinen für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman – Ein Sommer in Niendorf – im Programm lassen und konnten glücklicherweise extremst kurzfristig den großartigen Hamburger Schauspieler und Bühnenautor Stephan Benson (Foto) mit seiner eindringlichen Stimme als Vorleser gewinnen. Es geht um den Juristen Roth, der sich drei Monate an die Ostsee zurückzieht, um dort ein Buch zu schreiben, in dem er mit seiner Familiengeschichte abrechnen will. Gleich zu Beginn seines Aufenthaltes lernt er den örtlichen Spirituosenhändler kennen, der einerseits in seinem freiwilligen Exil eine wichtige Bezugsgröße wird, der ihn andererseits durch seine Art auch abstößt. Wie zwei Ertrinkende, so hat man den Eindruck, klammern sich die beiden in einem Abwärtsstrudel aneinander, der von immer heftigeren Alkohol-Exzessen gekennzeichnet ist. Der Text schon niemanden. Es geht um grandiose Abstürze, trostlosen Sex, um einen mentalen und körperlichen Zerfall und die Lebenslügen der bürgerlichen Welt – und das ist in all seiner grausamen Präzision auch immer wieder sehr lustig. Und wenn man schon keine Hoffnung mehr hat, erscheint am Ende doch ein Ausweg.

Ende in Sicht

von Ronja von Rönne, dtv

Ein stellenweise urkomischer, lustiger, immer anrührender und bewegender Roman über zwei sehr ungleiche Depressive ist Ronja von Rönne mit „Ende…

Ein stellenweise urkomischer, lustiger, immer anrührender und bewegender Roman über zwei sehr ungleiche Depressive ist Ronja von Rönne mit „Ende in Sicht“ gelungen. Irgendwo wurde über das Buch gesagt: „Lustig, auch wenn es eigentlich nicht zu lachen gibt“ – das trifft es auf den Punkt. Die Story: Es geht um den früheren Schlagerstar Hella Licht, die mit knapp 70 depressiv, versoffen und lebensmüde ist und die sich durch die kleine Lüge, dass sie „unheilbar krank“ sei, die Berechtigung erschlichen hat, in der Schweiz mit einer Organisation für Sterbehilfe aus dem Leben scheiden zu dürfen. Und es geht um Juli, die ist 15, depressiv und so fertig mit der Welt, dass sie sich von einer Autobahnbrücke in den Tod stürzen will. Das geht unbeabsichtigt schief, sie landet nur leicht verletzt vor dem Wagen der Hella Licht, die auf dem Weg in die Schweiz zur Sterbehilfe ist. Und schon beginnt eine tragisch-komische Fahrt durch zerklüftete Gefühls- und Seelen- und Lügenlandschaften, in der Ronja von Rönne grandios beschreibt, wie die beiden sich gegenseitig belügen und entlarven, bejammern und beschimpfen, denn keine will ihre wahren Ziele und Bewegründe offenbaren. Die Journalistin (Zeit, Zeit-Online), Moderatorin („Streetphilosophy“ auf arte) und Buchautorin Ronja von Rönne („Wir kommen“, „Heute ist leider schlecht“) hatte schon öfter sehr offen über die Depressionen gesprochen, mit denen sie selbst zu kämpfen hat. Vielleicht auch deswegen ist wohl noch nie so ergreifend und zugleich komisch und leicht über Depressionen geschrieben worden. Und darüber, wie zwei Verlorene ins Leben zurückfinden.

Enjoy Schatz

von Jovana Reisinger , Korbinian

Die preisgekrönte Autorin, Filmemacherin, Künstlerin und Schauspielerin Jovana Reisinger legt mit Enjoy Schatz einen aufregenden Gedankenstrom vor, in dem eine…

Die preisgekrönte Autorin, Filmemacherin, Künstlerin und Schauspielerin Jovana Reisinger legt mit Enjoy Schatz einen aufregenden Gedankenstrom vor, in dem eine Schriftstellerin grundsätzliche Überlegungen über ihr eigenes Leben anstellt. Ihr Ehemann hat sich aus der immer emotionsloseren, sehr früh, vielleicht zu früh eingegangenen Ehe praktisch verabschiedet und hat einen nicht enden wollenden Urlaub angetreten, der folgerichtig in einer echten Trennung mündet, ohne Streit, ohne Drama, die Beziehung plätschert einfach so aus. Es gibt Affären, die nichts wirklich bedeuten, auch einen Lover, in den dann aber schon echte Gefühle investiert werden, bis der andere Pläne entwickelt und äußert. Es geht um die mögliche Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung, um Klassenaufstieg und sexuelle Selbstbestimmung als emanzipierte Frau mit Liebe zum Tussihaften, das auch eine Haltung des Widerstandes sein kann: Wie geil darf ich sein, wie geil will ich sein, als wie geil will ich wahrgenommen werden und als wie geil will ich mich in der Öffentlichkeit zeigen, entblößen, offenbaren. Und warum? Aber auch: Warum nicht? Wie kriegt man all das unter einen Hut und wie viele Selbstzweifel sind gesund, notwendig, vielleicht aber auch hemmend. Und wo sind die Menschen, die mich diejenige sein lassen, die ich eigentlich bin und sein möchte? Klug und kämpferisch.

Face it

von Heike Makatsch, Debbie Harry, Heyne Hardcore

Die beste Stimme für ein tolles Buch: Heike Makatsch hat beim Writers‘ Thursday ( Presented by BMG and YouTube) in…

Die beste Stimme für ein tolles Buch: Heike Makatsch hat beim Writers‘ Thursday ( Presented by BMG and YouTube) in Berlin im 1. OG über dem Borchardt aus der Autobiografie von Blondie alias Debbie Harry („Face it!“) gelesen. In den Passagen ging es um das raue Künstlerleben im New York der 70er Jahre und wie sie sich zugleich zur Stilikone und zum feministischen Vorbild in einer männlich dominieren Musikszene entwickelte. Und das trug Heike Makatsch so perfekt vor, dass wohl alle Zuhörer sich gewünscht hätten, sie möge das ganze Buch doch bitte in einem Rutsch vortragen.

Fast ein neues Leben

von Anna Prizkau, Matthes & Seitz

Anna Prizkau liest die beim Writers‘ Thursday aus ihrem Buch „Fast ein neues Leben“, in dem sie zwölf wunderbare, zarte,…

Anna Prizkau liest die beim Writers‘ Thursday aus ihrem Buch „Fast ein neues Leben“, in dem sie zwölf wunderbare, zarte, melancholische, traurige, überraschende und immer wieder ergreifende Erzählungen über die Schwierigkeiten geschrieben hat, in einem neuen Land anzukommen und eine neue Heimat zu finden. Vor allen Dingen, wenn diejenigen, die schon da sind, einen vielleicht gar nicht wollen oder nur unter Vorbehalt dazugehören lassen wollen. Oder man das zumindest immer erst einmal vermutet und dann plötzlich merkt, wie man aus Furcht, als die Fremde gesehen zu werden, sich selbst und seine Liebsten verleugnet. Und dafür dann sehr schämt. Und sie entwickelt eine starke Sensibilität für jene, die vielleicht ganz ähnliche Perspektiven haben.

Fast hell

von Alexander Osang, Aufbau

Alexander Osang las beim „Writers´ Thursday Village“ in Flakes Garage aus seinem aktuellen Roman „Fast hell“. Darin beschreibt er die…

Alexander Osang las beim „Writers´ Thursday Village“ in Flakes Garage aus seinem aktuellen Roman „Fast hell“. Darin beschreibt er die viertägige Reise mit dem ostdeutschen Uwe, der in New York lebt, und dessen 80jähriger Mutter nach St. Petersburg. Der Erzähler begleitet Uwe, um für ein Sonderheft des „Spiegel“ über „Die Ostdeutschen“ eine Reportage zu schreiben. Aber er will keine Klischees, nicht die Erwartungen der Kollegen bezüglich „der Ostdeutschen“ erfüllen. Uwe scheint der richtige Kandidat, er hat eine irre Biografie mit den unwahrscheinlichsten, abenteuerlichsten Erlebnissen, die vom Schmuggel von Motorräder und Kühlschränken mit der chinesischen Armee bis hin zu unglaublichen internationalen Verwicklungen und Begegnungen führt. Je mehr der Erzähler hört, desto mehr denkt er über seine eigene ostdeutsche Biografie nach. Am Ende wird es ein Doppelporträt von Uwe und dem Erzähler. Die Reportage wird nie gedruckt, zu unwahrscheinlich scheint die Vergangenheit. Das lustige und mitreißende Buch stellt die Frage: Wie schreiben wir alle Geschichte, damit sie in unser Weltbild passt? Wie erinnern wir uns? Und woran? Und wie genau kennen wir eigentlich die anderen – und uns selbst.

Flusslinien

von Katharina Hagena, Kiepenheuer & Witsch

Die Hamburger Bestseller-Autorin Katharina Hagena, deren Werke (u.a. „Der Geschmack von Apfelkernen“, „Das Geräusch des Lichts“) in mehr als zwei…

Die Hamburger Bestseller-Autorin Katharina Hagena, deren Werke (u.a. „Der Geschmack von Apfelkernen“, „Das Geräusch des Lichts“) in mehr als zwei Dutzend Sprachen übersetzt worden sind, las erstmals aus ihrem noch nicht erschienen vierten Roman „Flusslinien“. Im Mittelpunkt stehen die 102 Jahre alte Margrit Raven, die in einer Hamburger Seniorenresidenz an der Elbe lebt, ihre Enkelin Luzie und Arthur, der junge Fahrer der Residenz. Alle drei leben im Schatten einschneidender Ereignisse ihrer persönlichen Vergangenheit. Luzie, bereits traumatisiert durch ein unangenehmes Erlebnis während ihres Australienaufenthaltes, hat gerade wütend die Schule vor dem Abi geschmissen, weil sie dort vom stellvertretenden Schulleiter sexuell belästigt wurde – und sich ihre sogenannte beste Freundin als unangenehm illoyal erwiesen hat. Sie will sich als Tätowiererin durchschlagen – und auch die sehr interessiere Oma großflächig tätowieren. Arthur, den Luzie als Fahrer ihrer Großmutter näher kennenlernt, gibt sich, wie sich erst nach und nach herausstellt, die Schuld am Tod seines geliebten Zwillingsbruders. Und Margrit Raven sitzt gerne im Römischen Garten und denkt über dessen Erschafferin – Else Hoffa – nach, die einst wohl ein Verhältnis mit ihrer Mutter hatte, dann aber vor den Nazis nach England fliehen musste. In der Seniorenresidenz begegnet sie zudem einer alten Affäre, einem Dirigenten, der heute leicht dement ist und ein Orchester ohne Instrumente dirigiert… Das Buch stellt uns die Frage, wie wir alle mit unserer Vergangenheit umgehen, wem wir uns wie weit öffnen, wem wir wirklich vertrauen – und ob und wie man es schaffen kann, sich von dunklen Erinnerungen zu lösen? Katharina hat jeder Figur eine ganz eigene Sprache gegeben und schafft es leicht, mit ihrem poetischen Grundton uns in diese Welt der Protagonisten und ihrer Erinnerungen versinken zu lassen. Wunderbar.

Frauen im Sanatorium

von Anna Prizkau, Rowohlt

Zuletzt war Anna Prizkau mit ihrem Erzählband „Fast ein neues Leben“ beim Writers´ Thursday, jetzt hat sie ihren Debütroman „Frauen…

Zuletzt war Anna Prizkau mit ihrem Erzählband „Fast ein neues Leben“ beim Writers´ Thursday, jetzt hat sie ihren Debütroman „Frauen im Sanatorium“ vorgelegt. Es geht um eine junge Frau, die Anna heißt und die nach einem „Unfall“ – sie hat sich vor ein Auto gestürzt – in einer psychiatrischen Klinik gelandet ist, in der es recht locker zuzugehen scheint: Es wird geraucht, oft Alkohol getrunken, Leute haben Sex. Anna , die es immer allen recht machen wollte, kommt aus eher schwierigen Familienverhältnissen: Der Vater wollte mit der Familie nicht wirklich nach Deutschland auswandern, musste aber fliehen, nicht aus politischen Gründen, wie man gerne vermuten würde, sondern vor einem wütenden Ehemann, mit dessen Frau er ein Verhältnis hatte. Von Annas Mutter hat er sich wegen einer anderen Affäre getrennt. In der Klinik ist Annas bester Freund ein Flamingo (!) im Park, dem sie sich regelmäßig anvertraut, ihre besten Freundinnen hier sind Marja und Elif, die eine Anna eine Art Tagebuch mit Porträts der anderen Patienten überlässt. Ob diese Geschichten stimmen, ist unklar, wobei im Laufe der Geschichte sowieso immer unklarer wird, was stimmt und was nicht. Ist Patient David, in den sie verliebt ist, vielleicht ein bisschen schizo? Niemand verrät dem anderen den Grund seines Aufenthalts. Und Anna verweigert die Einnahme ihrer Pillen, was ist bei ihr wahr, was nur ausgedacht? Woher kommen die Erinnerungslücken. Sind die echt? Wir erleben eine faszinierende, verwirrende und poetische Suche nach Nähe, Liebe, Wahrhaftigkeit – und Wirklichkeit, die ihren ganz eigenen Sog entwickelt.