Buchtipps

Buchempfehlungen von Rainer Schmidt (in alphabetischer Reihenfolge der Buchtitel)

Der Zauberberg, die ganze Geschichte

von Norman Ohler, Diogenes

Vor genau 100 Jahren erschien „Der Zauberberg“ von Thomas Mann, an dem er 11 Jahre gearbeitet hatte und in dem…

Vor genau 100 Jahren erschien „Der Zauberberg“ von Thomas Mann, an dem er 11 Jahre gearbeitet hatte und in dem er seinen Helden Hans Castorp sieben Jahre lang in Davos „urlauben“ lässt. Pünktlich zum Jubiläum erscheint Norman Ohlers „Der Zauberberg, die ganze Geschichte“, in dem zwei Erzählstränge miteinander verbunden werden: Die Reise des Autors in der Jetztzeit mit seiner pubertierenden Tochter und Bekannten nach Davos und die Aufarbeitung unbekannter Geschichtsteile des berühmten Ortes, der heute vielen vor allem wegen des World Economic Forums ein Begriff ist, dem Treffen der mächtigsten Menschen der Welt. Ohler gräbt erstaunliche Fakten aus den Archiven aus: Im 19. Jahrhundert war die Tuberkulose eine Plage der Menschheit, sie wurde auch „die weiße Pest“ genannt, Hunderttausende starben, vor Erfindung des Penicillins gab es keine richtige Medizin gegen dieses Übel, das alle heimsuchen konnte. In den deutschen Revolutionswirren von 1848 wurde der 23jährige Medizinstudent Alexander Spengler zum Tode verurteilt, er floh in die Schweiz in die Berge und landete in dem kleinen Dorf Davos. Ihm fiel auf, dass hier in der Höhe und der Sonne und „der guten Luft“ viel weniger Menschen an Tuberkulose zu litten schienen als in der Eben – der Grundstein für den Mythos Davos als Heilort war gelegt (Ohler macht auch auf die erstaunliche Tatsache aufmerksam, dass dort oben von armen Familien KinderSKLAVEN für deutsche Bauern rekrutiert wurden, eine Tatsache, von der man so noch nicht gehört hatte), . Wissenschaftlich wurde die Behauptung nie bewiesen, aber das war egal, Davos wurde in wenigen Jahrzehnten zum „Mekka der Schwindsüchtigen“ (so nannte man die Tuberkulose auch), in dem mit seltsamen Methoden – viel Milch, viel Wein – gegen die heimtückische Krankheit gekämpft wurde. Ohler beschreibt, wie der Ort zu einem Treffpunkt der Gesellschaft wurde, wo die Patienten teilweise viele Monate verbrachten, an dem ungezügeltem Hedonismus gefrönt wurde. Es wurde zeitweise ein Treffpunkt der internationalen Säufergemeinschaft, der zentrale Promenadenweg wurde spöttisch „Promilleweg“ genannt. Die Ärzte bestimmten in dem Ort gottgleich, ihre Methoden stellte niemand in Frage, auch wenn in Davos genauso häufig gestorben wurde wie überall anders auch. Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 brach ein guter Teil des Wirtschaftsmodells mit teuren Kliniken zusammen, Anfang der 30er

Wirtschaftskrise bestimmten die Aktivitäten eines Deutschen mehr und mehr das Leben in der Berggemeinde: Wilhelm Gustloff war ein fanatischer Unterstützer Adolf Hitlers und wollte Davos zu einer Art Hauptstadt der Nazis in der Schweiz machen, bald hieß er nur noch der „Diktator von Davos“ genannt – bis ein jüdischer Medizinstudent aus Deutschland ihn umbrachte, als Zeichen des Widerstandes. Hitler benannte ein Schiff nach Gustloff, eben jenes Schiff, das dann im Januar 1945 mit tausenden Flüchtlingen von einem russischen U-Boot versenkt wurde. Der Attentäter wurde übrigens nach dem Krieg in der Schweiz begnadigt und wanderte nach Israel aus. Das Buch verfolgt dann die Geschichte von Davis bin in die Neuzeit zum Word Economic Forum, diesem privaten Treffen der Mächtigen und Reichen, wo die Einflusssphären neu ausgehandelt werden. Zugleich sucht Ohler nach den Spuren aus der Vergangenheit und macht sich Gedanken über die Welt, die er und wir seiner pubertierenden Tochter einmal hinterlassen werden. Spannend und anregend.

Die Frau mit dem Arm

von Sven Regener, Andreas Dorau, Galiani

Was für ein Auftritt: Ein absolutes Highlight beim Writers´ Thursday in Berlin war die Lesung von Sven Regener und Andreas…

Was für ein Auftritt: Ein absolutes Highlight beim Writers´ Thursday in Berlin war die Lesung von Sven Regener und Andreas Dorau, die zusammen das urkomische Buch „Die Frau mit dem Arm“ verfasst haben. Und was kommt heraus, wenn zwei Superkünstler aufeinandertreffen und sich gegenseitig inspirieren – genau, ein Superbuch. Andreas Dorau, der mit 15 durch puren Zufall praktisch einen Welthit produziert hatte („Fred vom Jupiter“), von dem er sich seitdem verfolgt fühlt, hat in seinem extrem bewegten, hochproduktiven Leben alle Höhen und Tiefen der Popkultur und des Kunstbetriebes erlebt, ohne Geld, mit sehr viel Geld, ohne Erfolg, mit Riesenerfolg, Subkultur, Hochkultur, es war ein wilder Ritt durch die Kulturlandschaft – als Angestellter einer Plattenfirma, als Berater, als Hitproduzent, als Sänger, als Videoproduzent. Und die schönsten und irrsten Episoden hat er Sven Regener erzählt, der gerade ein neues Album mit seiner Band Element of Crime herausgebracht hat und beim Writers´ Thursday schon aus seinen letzten drei Bestsellern gelesen hatte (Magical Mistery, Wiener Straße, Glitterschnitter). Dieser Superautor hat daraus im unvergleichlichen Regener-Stil einen literarischen Text gemacht hat, der so klingt wie Andreas Dorau klingen könnte, wenn er all diese Storys erzählt: Wie Dorau zum Hypnotiseur geht, um sein ambivalentes Verhältnis zum Jupiter-Hit ein für alle Mal klären zu lassen, wie er vor verängstigten Kindern seine Show durchzieht oder beim Arzt festgestellt wird, dass er ein übergroßes Hirn hat und warum er schwarze Merchandise-Shirts mit seinem Namen hasst usw. usf. Als Sven beim Writers´ Thursday aus dem Buch las, musste er mehrfach unterbrechen, so laut wurde im Publikum gelacht. Dorau saß hinter ihm und gab kurze Kommentare ab, ein Riesenspaß für alle Beteiligten.

Die Frau, die es nicht mehr gibt

von Maiken Nielsen, Wunderlich

Alexandra Richter, genannt Alex, trifft nach dem Abitur in Südfrankreich auf eine faszinierende Gauklertruppe, mit der sie dann zusammen lebt, bis die mysteriöse Mado verschwindet und Alex feststellen muss, dass sie nur einen Bruchteil der Identität derer kennt, mit denen sie sich angefreundet hat.

In Hamburg las erstmals auch die Hamburger Journalistin und Schriftstellerin Maiken Nielsen bei einem Writers´ Thursday, die bereits ein umfangreiches Werk geschaffen hat und an diesem Abend ihren jüngsten Roman präsentierte: „Die Frau, die es nicht mehr gibt“. Es geht um die junge Hamburgerin Alexandra Richter, genannt Alex, die in den 80ern nach dem Abi mit ihrem Fotoapparat die Welt bereist und in Südfrankreich im Lubéron Gebirge auf ein faszinierendes Trio aus Straßenkünstlern trifft. Zu Mado, Fantomas und Loic entwickelt sich schnell eine enge Freundschaft, aber vor allem ist sie von der mysteriösen Mado fasziniert. In dem Dorf der drei unweit eines Atomwaffenlagers treffen Künstler auf Intellektuelle und Abenteurer, die nach Gleichgesinnten, Glück und neuen Lebensformen suchen. Über all der Unbeschwertheit meint man immer wieder, schon dunkle Wolken, Geheimnisse, Unausgesprochenes, Verschwiegenes zu spüren. Plötzlich ist Mado fort, erst 30 Jahre später trifft Alex sie, die sich jetzt anders nennt, durch Zufall wieder – und erfährt die Wahrheit, die hinter dem scheinbar unbeschwerten Glück im Dorf einst verbarg. Es geht um Freundschaft, Liebe und Verrat, den Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit, um die Suche nach Identität, Heimat und Geborgenheit. Aber auch um radikale politische Aktionen in den hochpolitiserten 70er und 80ern, um Druck und Zwang, um die Frage, wie gut wir andere wirklich kennen und wem wir vertrauen. Maikens Stil vermittelt einerseits die Leichtigkeit des Seins in einer bestimmten Szene im Frankreich der damaligen Zeit, andererseits ist der Stoff so packend wie anrührend. Das perfekte Buch nicht nur für den Sommerurlaub!

Die karierten Mädchen

von Alexa Hennig von Lange, Dumont

Unsere Freundin Alexa Hennig las beim Writers´ Thursday aus ihrem jüngsten Erfolgsroman „Die karierten Mädchen“. Alexa hat 130 Tapes ihrer…

Unsere Freundin Alexa Hennig las beim Writers´ Thursday aus ihrem jüngsten Erfolgsroman „Die karierten Mädchen“. Alexa hat 130 Tapes ihrer verstorbenen Großmutter abgehört, auf der diese ihre bewegte Lebensgeschichte erzählt hat. Von diesem Stoff hat sie sich zu einem faszinierenden Roman inspirieren lassen. Das Buch wird auf zwei Zeitebenen erzählt: Auf der einen spricht die blinde, greise Klara ihre wahre Geschichte auf Kassetten, auf der anderen begleiten wir die junge Klara durch die Wirren der späten 20er Jahre und den Beginn der Nazi-Diktatur. Klara hat Glück und bekommt in der Weltwirtschaftskrise einen Job als Lehrerin in einem Kinderheim. Bald stirbt die Leiterin, die Existenz des Heimes ist gefährdet, Klara übernimmt. Sie ist politisch naiv und ignorant und arrangiert sich bald – gegen die Warnungen ihrer Kollegin und Freundin Susanne – mit den neuen Herrschenden, weil sie das Beste fürs Heim will und glaubt, der Nazi-Spuk gehe schnell vorbei. Aber die Nazis wollen aus dem Kinderheim eine Erziehungsanstalt im deutschen Geiste für junge Mädchen und Frauen machen. Klara sträubt sich nur ein bisschen, Hauptsache, es geht weiter. Nach außen wirkt sie wie eine empörende Mitläuferin, aber sie hütet ein gefährliches Geheimnis: Sie hat das jüdisches Waisenkind Tolla aufgenommen, das sie als eigenes ausgibt, auch gegenüber den Nazis. Nur eine Handvoll Menschen weiß davon. Als die Judenverfolgung schon Mitte der 30er Jahre immer drastischere Formen annimmt, weiß sie: Tolla ist in Lebensgefahr – und sie wegen ihrer Lügen auch. Schließlich fasst sie einen folgenschweren Entschluss… „Die karierten Mädchen“ (benannt nach den Schürzen der Mädchen in der Anstalt) ist die erste Folge einer Trilogie, inspiriert von der Lebensgeschichte der Großmutter.

Die Kriegerin

von Helene Bukowski, Blumenbar

Helene Bukowski, die 2019 mit ihrem Debüt „Milchzähne“ Aufsehen erregt hatte (mehrfach nominiert, Übersetzungen ins Englische und Französische), las aus…

Helene Bukowski, die 2019 mit ihrem Debüt „Milchzähne“ Aufsehen erregt hatte (mehrfach nominiert, Übersetzungen ins Englische und Französische), las aus ihrem Roman „Die Kriegerin“. Es geht um zwei Frauen, Liesbeth und „Die Kriegerin“. Beide waren einst zusammen bei der Bundeswehr, Liesbeth ist nach zunächst nicht genannten unangenehmen Erfahrungen irgendwann ausgestiegen, ihre Freundin ist immer noch Soldatin. Liesbeth ist sensibel und hautkrank, die Neurodermitis quält sie seit frühester Kindheit, manchmal hat sie den Eindruck, ihre Haut sei so porös, dass alles durchdringt, dass sie sich auflöst. Sie fühlt sich in ihrer Haut und in ihrem neuen Leben als Blumenverkäuferin und Mutter eines Kindes so unwohl, dass sie irgendwann alles hinter sich lässt und an die Ostsee flieht, wo sie früher frohe Kindheitstage verbracht hat. Hier trifft sie immer wieder, auch später, als sie vor Gegenwart und Vergangenheit als Angestellte auf ein Kreuzfahrtschiff geflohen ist, „die Kriegerin“, die zunehmend von ihren Einsätzen gezeichnet ist. In Zeiten der Trennung ersetzen lange Briefe die direkte Kommunikation. Es geht um Freundschaft und seelische Wunden, um Geheimnisse, Traumata und die Frage, wie man sich gegen das Unbill von außen schützt und wem unser Körper gehört und wie man sich in der Welt heimisch fühlen soll, wenn einem schon der eigene Körper fremd geworden ist. Und wie man dieses Gefühl überwindet. Der zurückhaltende, poetische Grundton von Helen Bukowski lässt das Grauen beim Lesen erst langsam einsickern und umso eindringlicher wirken. Ein ungewöhnliches Setting, ein beeindruckendes Buch.

Die Lügnerin

von Friedemann Karig, Ullstein

Friedemann Karig hat mit „Die Lügnerin“ nach „Der Dschungel“ seinen zweiten Roman vorgelegt. Der erfolgreiche Podcaster („Piratensender Powerplay“ mit Samira…

Friedemann Karig hat mit „Die Lügnerin“ nach „Der Dschungel“ seinen zweiten Roman vorgelegt. Der erfolgreiche Podcaster („Piratensender Powerplay“ mit Samira El Ouassil) und Bestsellerautor „Erzählende Affen“, ebenfalls mit Samira El Ouassil) erzählt hier die packende Geschichte einer Frau, die um die Frage kreist, ob wir am Ende nicht alle die Summe der wahren und unwahren Geschichten sind, die wir über uns erzählen. Und uns auch die Frage stellt, wo die Grenze zwischen Lüge und Wahrheit verläuft, wenn wir uns alle erlauben, die Wahrheit durch ein bisschen Weglassen oder durch Übertreibungen zu kuratieren: Die chronische Lügnerin erzählt einer „Beraterin“ in einer Privatklinik ihr Leben. Clara Konrad hatte früh erkannt, dass sie die Fähigkeit hat, die Leerstellen in Menschen zu benennen, sie wusste automatisch, was anderen fehlt. Und sprach sie diese geheimen Wünsche der anderen einmal aus, folgte ihr jede:r. Die Beraterin lässt sich ihr Leben erzählen und weiß nie, was ist wahr, was nicht. Konnte Clara Konrad wirklich mit ihren Geschichten die Realität verändern? Wahnwitzige Anekdoten werden ihr aufgetischt. Unheilbare Krankheiten wurden geheilt, Roulettezahlen vorhergesagt – tatsächlich? Am Ende zweifelt die Beraterin an ihrer eigenen kritischen Distanz, als plötzlich während des Gesprächs auch eigenartige Dinge zu passieren scheinen. Es geht um die Macht der Geschichten, die wir einander erzählen und glauben. Und auch die Frage, ob es es einen Unterschied macht, ob es eine Lüge ist oder eine Wahrheit, die keiner kennt? Faszinierend.

Die Macht der Nacht

von Westbam, Ullstein

Westbam alias Maximilian Lenz kennt wie nur wenige „Die Macht der Nacht“, die er in seinem gleichnamigen Buch beschreibt, ist…

Westbam alias Maximilian Lenz kennt wie nur wenige „Die Macht der Nacht“, die er in seinem gleichnamigen Buch beschreibt, ist er doch seit 40 Jahren als DJ aktiv. In seiner Heimatstadt Münster fand er, aus dem Punk kommend, sehr früh zur elektronischen Musik und den Turntables. Bereits 1984 veröffentlichte der Pionier den hellsichtigen und oft zitierten Essay „Was ist Record-Art?“, in dem er den DJ, der vielen damals noch als dienstleistender „Plattenaufleger“ galt, als Musiker eigenen Rechts beschrieb. “No more fucking Rock´n´Roll” hieß die befreiende Losung, mit der die Revolution des großen, mächtigen Bum Bum Bum eingeläutet wurde, weltweit – und eben auch aus Münster heraus. Westbam wurde „vom Erdinger Moos bis Tokio“, wie es im Buch heißt, gebucht, auf jeder Loveparade hat er aufgelegt, deren Hymnen geschrieben und die Mayday maßgeblich mitgeprägt, als Gesellschafter und als DJ. Mit Jürgen Laarmann, Herausgeber des Techno-Organs „Frontpage“, verkündete er 1994 die „Raving Society“, ein neues Gesellschafts-Modell auf Basis der Technokultur. Das klang ein bisschen größenwahnsinnig, fiel aber in der Zeit auf fruchtbaren Boden. Westbam war der Szene-Philosoph, einer der wenigen Intellektuellen auf dem Dancefloor, der seitenlang Thomas Bernhard und Schopenhauer aus dem Kopf zitieren konnte und mit dem späteren Büchner-Preis-Träger Rainald Goetz 1997 das Buch Mix, Cuts & Scratches schrieb. Pionier ist er heute noch. So brachte er 2023 mit „Richard Wagner meets Westbam“ bei den Osterfestspielen in Salzburg und anderen Städten einen wilden Mix aus Klassik und Club in den Konzertsaal, der als ein „bewusstseinserweiternder Trip durch den Wagner-Kosmos“ gefeiert worden ist. „Die Macht der Nacht“ ist ein fulminantes Sittengemälde des Nachtlebens, das beschreibt, wie der Underground zur Massenbewegung wurde, wie die neue Musik in die Welt und um die Welt ging. Es geht um Euphorie und Befreiung, um Rausch und Absturz, um Konkurrenz, Freundschaft und Neid, um den perfekten Mix. Und immer wieder auch um die extrem unterhaltsamen Härten des exzessiven Nachtlebens, dessen Reiz niemals aufhört und an keine Altersgrenze gebunden ist.

Die Optimistin

von Timo Blunck, Heyne Hardcore

Der Hamburger Timo Blunck verkörpert als Musiker, Sänger, Produzent und Schriftsteller die Verbindung zwischen Musik und Literatur, die uns beim…

Der Hamburger Timo Blunck verkörpert als Musiker, Sänger, Produzent und Schriftsteller die Verbindung zwischen Musik und Literatur, die uns beim Writers´ Thursday so besonders interessant erscheint – und hat an dem Abend natürlich auch ein Stück live gespielt, wunderbar! Als Musiker hat er Palais Schaumburg und Die Zimmermänner mitgeprägt, als Autor uns mit der exzessiven Drogen-Sex-Achterbahnfahrt „Hatten wir nicht mal Sex in den 80ern“ beglückt. Er las aus seinem zweiten Roman: Die Optimistin. Der 30jährige Toygur flieht auf einem Dromedar (zu kompliziert zu erklären, warum das Vieh da gerade war ) am Ostseestrand vor seiner Zwangsverheiratung, mit der er die Schulden seines Vaters bei einem Kredithai tilgen sollte. Er versteckt sich vor seinen Verfolgern in einem Seniorenheim bei Charlotte Keller, die ihren 80. Geburtstag feiert und ihm eine wahnwitzige Lebensgeschichte erzählt: wie ihr Mann Adolf Hitler bei seiner Flucht nach Argentinien traf, wie sie die Geliebte von Ringo Starr wurde und sie es war, die A Hard Day´s Night komponiert hat, wie sie mit Ulrike Meinhof, die, so die Keller, nicht in Stammheim gestorben ist, Stücke schrieb und wie Raimund Harmstorf für sie noch einmal eine Kartoffel zerdrückte. Und wann immer Toygur Zweifel an ihren Erzählungen anmeldet, zeigt sie ihm ein passendes Foto, das alles zu beweisen scheint. Das ist ein lustiger, charmanter, rasanter Referenzen-Ritt durch die Film-, Fernsehen- und Popgeschichte, frei nach dem Motto: Alles stimmt, aber nichts ist wahr.

Die Projektoren

von Clemens Meyer, S. Fischer

Schriftsteller Clemens Meyer (rechts) hat mit „Die Projektoren“ ein nicht nur wegen seiner mehr als 1000 Seiten (!) monumentales Werk…

Schriftsteller Clemens Meyer (rechts) hat mit „Die Projektoren“ ein nicht nur wegen seiner mehr als 1000 Seiten (!) monumentales Werk vorgelegt. Die komplexe Geschichte spielt vor allem in dem Gebiet, das früher das Staatsgebiet Jugoslawiens war, und streift von dort praktisch die größten Krisen Europas der vergangenen 100 Jahre: vom Zweiten Weltkrieg bis zu den Kriegen im zerfallenden Jugoslawien und darüber hinaus. Eine Hauptfigur ist der „Cowboy“, der während der Nazibesatzung ein Partisan unter Tito war, aber auch in den 90ern wieder kämpfte, der dazwischen aber vor allem auch Statist bei den deutschen Karl-May-Filmen war, die im jugoslawischen Karstgebirge gedreht wurden. Karl May ist eine weitere Leitfigur der Erzählung, hier nur „Dr. May“ genannt, der große deutsche Märchenerzähler und Mythenerschaffer, dem der Autor einen Aufenthalt in der Leipziger Nervenheilanstalt Güntz andichtet. Dessen Schaffen und Leben wirkt durch alle Handlungen irgendwie durch. Es treten auch auf: der US-Schauspieler Lex Barker (= Old Shatterhand in den Karl-May-Filmen) und Pierre Brice (= Winnetou in den Filmen), sowie weiteres Filmpersonal und erfundene Personen. Ein mysteriöser „Fragmentarist“, lässt sich öfters freiwillig in die erwähnte Anstalt einweisen, wo er den längst verstorbenen „Dr. May“ sucht, dringt dort in einen eigentlich verschlossenen Turm vor und bekritzelt die Wände über Jahre mit Zukunftsversionen von Menschen und Ländern, die, wie man dann nachträglich feststellt, fast alle so eintreten: Aufstände Polen, im Kosovo, Krieg im Orient und in Jugoslawien. Clemens Meyer schafft durch seine besondere Sprache und die Erzählung eine ganz eigene Welt, die scheinbare Realität und Fiktion so kunstvoll vermischt, dass man sich gerne darin verliert. Kein Wunder, dass er damit auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis steht und für den Bayerischen Literaturpreis nominiert ist.

Die Sommer

von Ronya Othmann, Hanser

Die preisgekrönte Autorin Rony Othmann (u.a. Publikumspreis Ingeborg Bachmann Wettbewerb) und tolle FAS-Kolumnistin („Import – Export“) las beim Writers´ Thursday…

Die preisgekrönte Autorin Rony Othmann (u.a. Publikumspreis Ingeborg Bachmann Wettbewerb) und tolle FAS-Kolumnistin („Import – Export“) las beim Writers´ Thursday aus ihrem 2020 erschienen, beeindruckenden Debütroman „Die Sommer“. Es geht um Leyla, deren Mutter Deutsche und deren Vater jesidischer Kurde aus Syrien ist und die in München geboren wurde und dort lebt und studiert. Die Sommerferien hat sie einst im Dorf des Vaters verbracht und da das einfache Leben sowie den engen Familien- und Dorfverbund kennengelernt. Das wurde Teil ihres Lebens. Sie pendelt zwischen zwei Welten und muss fassungslos im TV verfolgen, wie die Dorfbewohner unter dem Bürgerkrieg leiden und wie der IS Massaker an den Jesiden verübt. Ebenso fassungslos registriert sie die Teilnahmelosigkeit ihrer Münchner Kommilitonen an den Geschehnissen in Syrien. Das alles schildert Othmann in einer beeindruckend zurückhaltende Sprache, durch die man die Zerrissenheit quasi körperlich nachempfinden kann.

Die Toten Hosen

von Thees Uhlmann, KiWi

Der rockt auf jeder Bühne und lässt die Buchstaben tanzen: Thees Uhlmann beschwört seine Liebe zu den Toten Hosen.

Der rockt auf jeder Bühne und lässt die Buchstaben tanzen: Thees Uhlmann beschwört seine Liebe zu den Toten Hosen.

Die Träume anderer Leute

von Franziska Herrmann, Jasna Fritzi Bauer, Judith Holofernes, Kiepenheuer & Witsch

In Berlin las die tolle Schauspielerin Jasna Fritzi Bauer, in Hamburg die ebenso tolle Franziska Herrmann aus Judith Holofernes` schönem…

In Berlin las die tolle Schauspielerin Jasna Fritzi Bauer, in Hamburg die ebenso tolle Franziska Herrmann aus Judith Holofernes` schönem Buch „Die Träume anderer Leute“: ein sehr persönlicher, schonungsloser Bericht über das Leben nach dem großen Erfolg, über die Zweifel, die Leere, die Depressionen, die Judith Holofernes nach dem Ende von „Wir sind Helden“ durchlitt. Und über ihren Kampf um ein neues, auch künstlerisch selbstbestimmtes Leben. Als sie mit der Gruppe 2000 nach vier Alben aufhörte, war sie, was kaum jemand wusste „ausgebrannt, unglücklich, krank, kaputt“. Allergien, Asthma und unzählige Infekte hatten sie zermürbt, in der mächtigen Pop- und Erfolgsmaschine war sie irgendwie verloren gegangen. Sie macht Pause, meditiert, sammelt Kraft. Um dann, nach wenigen Jahren, wieder mit Musik zu starten. Sie will die alten Fehler nicht wiederholen. Aber die Erwartungen der anderen und auch der eigene Ehrgeiz beim neuen Soloprojekt lässt sie in alte Muster fallen und wieder fühlt sie sich „ausgebrannt, unglücklich, krank, kaputt“. Bei der Lektüre möchte man immer wieder rufen: „Nein, nein, tu es nicht, stopp!“ Aber dann findet sie endlich den Ausstieg. Und eine Lösung für ihren Wunsch nach freier künstlerischer Arbeit. So einen intimen, bewegenden Einblick in die harte Zeit nach dem Pop-Ruhm hat es im deutschsprachigen Raum noch nicht gegeben.

Die Ungelebten

von Caroline Rosales, Ullstein

Jennifer Boyard ist in der Schlagerwelt aufgewachsen, denn ihr Vater Bernd Boyard ist ein sehr erfolgreicher Schlagerproduzent, ein Patriarch alter…

Jennifer Boyard ist in der Schlagerwelt aufgewachsen, denn ihr Vater Bernd Boyard ist ein sehr erfolgreicher Schlagerproduzent, ein Patriarch alter Schule, der Zeit seines Lebens die Macht hatte und genoss, Karrieren zu ermöglichen oder zu verhindern. Er zieht sich immer mehr zurück aus dem operativen Geschäft, Jennifer soll den Laden allein schmeißen. Eines Tages meldet sich eine Sängerin, Lorelei Hewer, die Anzeige gegen Bernd Boyard stellen will, weil der sie vor vielen Jahren, als sie 17 war, missbraucht haben soll. Dem Vater ist der Vorwurf lästig, Jennifer soll das Problem schnell lösen und die Sängerin mundtot machen, wie auch immer: durch Einschüchterung, Geld, Ignoranz. Jennifer trifft die Frau und lässt sich alles schildern. Sie weiß, was diese Art Vorwurf mit dem Vater und der Firma anstellen kann, sie muss das Geschäft schützen. Einerseits. Andererseits klingen die Vorwürfe glaubhaft und sie traut die behaupteten Taten ihrem so selbstgewissen, arroganten, machtbewussten Herrscher-Vater durchaus zu, was bei ihr auch den Gedanken aufkeimen lässt. Ob der Alte sich seiner Verantwortung nicht einmal im Leben auch stellen sollte. Von ihrem Ehemann Max, der ihren Vater bewundert und gleichzeitig von ihm eingeschüchtert ist, kann sie keine Unterstützung erwarten, dem sind die beruflichen Ambitionen seiner Ehefrau sowieso nicht ganz geheuer, er sucht Zerstreuung bei einer Affäre. Oft muss sie deswegen an ihre große Jugendliebe Paul denken, der einst einen furchtbaren Unfall auf einem vereisten See hatte, der für sie aber immer noch ein rettender Gedankenanker ist, egal, was die anderen über ihn sagen, die ihn behandeln, als sei er tot, aber nicht für sie. Das Buch beschreibt die faszinierend verlogene Schlagerwelt, die auch nichts anderes ist als ein Brennspiegel der Gesellschaft, in der sie sich genau so behaupten kann, es ist ein Sittenbild einer Gesellschaft, in der weiterhin Männer dominieren, Patriarchen alten Schlages hinter den Kulissen das Sagen haben, auch wenn sich die Fassaden manchmal schon etwas moderner und toleranter präsentieren. Doch hinter den dünnen Wänden der Scheinheiligkeit geht es weiter um nichts anderes als Macht und Machtgelüste, Eitelkeiten und Uneinsichtigkeiten, um Einfluss und Manipulation. Am Ende verliert Jennifer den Kampf gegen die Front der Männer, die ihr Verhalten pathologisieren und ihr einreden, dass sie das eigentliche Problem sei. Caroline Rosales gelingt es dabei auf erstaunliche Weise, das Harte und Schwere unterhaltsam und wie nebenbei zu erzählen, was zu einer noch nachhaltigeren Erschütterung führt. Bemerkenswert.

Die Verräter

von Artur Weigandt, Hanser Berlin

Artur Weigandt wurde in einem Dorf namens Uspenka in der kasachischen Steppe geboren, das seine Eltern mit ihm Richtung Deutschland…

Artur Weigandt wurde in einem Dorf namens Uspenka in der kasachischen Steppe geboren, das seine Eltern mit ihm Richtung Deutschland verließen, als er noch ein Kleinkind war. Der Vater hatte deutsche Vorfahren, die Mutter ukrainische und belarussische Wurzeln, so erreichten sie in den frühen 90ern die Bundesrepublik. Viele verließen damals ihr Dorf – und fühlten sich fortan immer irgendwie wie „Die Verräter“ an der früheren Heimat. In seinem gleichnamigen, fesselnden Debüt – einer extrem gelungenen Mischung aus sehr persönlicher Biografie und politischer Analyse – beschreibt Artur Weigandt auf berührende Weise, wie das Dorf in den Erinnerungen aller, die es verlassen haben, weiterlebt, wie sie sich schuldig fühlen – und zerrissen. Denn in Kasachstan gelten sie als Verräter, in der neuen Heimat aber als Fremde. Als Russland im vergangenen Jahr die Ukraine überfällt spürt er, wie ihm dieser Krieg noch einmal ganz anders näher ist als seiner aktuellen deutschen Umgebung – nicht nur wegen der verwandtschaftlichen Beziehungen in diese Länder. Er erinnert sich an die Geschichten seiner Familie, die von den Erzählungen von Repression, Deportation und Elend in der Sowjetunion geprägt sind, von Flucht und Vertreibung, die sein Bewusstsein und das der Verwandten heute immer noch prägen. Er ist fassungslos angesichts der Putinversteher in seiner neuen Heimat Deutschland. Artur Weigandt hat kein sentimentales Heimatbuch geschrieben, sondern ein Buch für alle „Heimatlosen“, wie es in der Widmung vorne heißt, eine warme, berührende Identitätssuche, die er mit klugen Reflexionen und Analysen anreichert und darüberhinaus noch einmal ganz neue Perspektiven auf den furchtbaren Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine bietet. Unbedingte Leseempfehlung.

Die Wahnsinnige

von Alexa Hennig von Lange, Dumont

Alexa Hennig von Lange nach Ihrer Lesung beim Writers´ Thursday im 1. OG, der diesmal wieder ohne Live-Publikum stattfand. Zuletzt…

Alexa Hennig von Lange nach Ihrer Lesung beim Writers´ Thursday im 1. OG, der diesmal wieder ohne Live-Publikum stattfand. Zuletzt war sie mit ihrem tollen Roman „Kampfsterne“ zu Gast gewesen, diesmal las sie aus ihrem neuen Buch „Die Wahnsinnige“. Es geht um Johanna von Kastilien, deren Mutter „Isabella, die Katholische“ ihr Reich mit unerbitterlicher Härte beherrscht und der sie auf dem Thron folgen soll. Aber Johanna betet nicht, beichtet nicht – und mag niemanden beherrschen. Und sie wehrt sich gegen die Zwänge und die Mischung aus Machtgier, Verrat, Betrug, Intrigen und Rücksichtslosigkeit, die alle anderen für normal zu finden scheinen. Und wegen dieser Haltung gilt sie schnell als ungeeignet für den Thron – und als verrückt. Alexa hat einen historischen Stoff gewählt, erzählt aber eigentlich eine moderne Geschichte: Wenn die Verhältnisse irre sind, ist dann derjenige verrückt, der sich gegen die Umstände wehrt, oder sind es vielmehr nicht jene, die sich daran gewöhnt haben, diese als normal anzuerkennen?

Doch

von Drangsal, Claassen

Es ist schon ein paar Jahr her, dass ein befreundeter Musikjournalist einen so begeisterten Artikel über Drangsal schrieb, den Musiker,…

Es ist schon ein paar Jahr her, dass ein befreundeter Musikjournalist einen so begeisterten Artikel über Drangsal schrieb, den Musiker, Singer und Songwriter, dass man sich sofort näher mit ihm beschäftigen musste, nur um festzustellen: Stimmt alles, der bedient sich so selbstbewusst und gekonnt aus dem Repertoire der jüngeren Pophistorie, dass man von den Ergebnissen sofort gebannt ist. Das hat er schon als Vorgruppe von „Die Ärzte“ oder in der Volksbühne als musikalische Begleitung einer Helene-Hegemann-Lesung bewiesen. In der Literatur zeigt er sich genau so mutig. In seinem ersten Buch („Doch“) sind 24 kleine Erzählungen, Miniaturen, Gedichte, Songtexte versammelt, einfühlsame, zarte, brutale und sehnsüchtige Texte, die einen von einem Gefühlszustand in den nächsten katapultieren. Es geht um die Suche nach Identität, Wärme, Verständnis, Erfüllung und die Emanzipation eines Jungen, der anders ist, unter widrigen Umständen. Ein Teil ist autobiografisch geprägt, von Drangsal Heranwachsen in der nicht immer einfachen pfälzischen Provinz, einem harten Trucker-Vater, dunklen Kaschemmen und viel Alkohol, der in seiner familiären Umgebung konsumiert wird. Andere Stücke sind rein fiktional, andere wiederum pure Poesie. Man lernt den Unterschied kennen zwischen einem Knightrider und einem Himbeer-Toni, erfahren, was es mit dem Dopsen auf sich hat und warum der arme Rotating Boy seine letzte Lebensrunde dreht. Beeindruckend!