Buchtipps
Allegro Pastell
Leif Randt liest beim Writers’ Thursday aus seinem Roman „Allegro Pastell“, der völlig zu Recht auf der Longlist zum Deutschen…
Leif Randt liest beim Writers’ Thursday aus seinem Roman „Allegro Pastell“, der völlig zu Recht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis steht. Es geht in diesem extrem wirklichkeitsgesättigten Roman um die Fernbeziehung zwischen Autorin Tanja und Webdesigner Jerome, um Liebe im Zeitalter exzessiver Dauerkommunikation, um Zufriedenheit ohne große Erregungskurven, um Relexion und Selbstbeherrschung, kurzum um das Leben in den ausgehenden Zehnerjahren
Arbeit
Thorsten Nagelschmidt liest aus seinem aktuellen Roman „Arbeit“ beim Writers‘ Thursday. Darin entwirft er ein Panorama des Nachtlebens in Berlin…
Thorsten Nagelschmidt liest aus seinem aktuellen Roman „Arbeit“ beim Writers‘ Thursday. Darin entwirft er ein Panorama des Nachtlebens in Berlin über knapp ein Dutzend Porträts von Leuten, ohne welche die ganzen Welt der Easy-Jetsetter, Druffis, Abstürzer, Feierer, Kaputtniks, Touris etc pp nicht so reibungslos funktionieren würde: Polizisten, Taxifahrer, Späti-Betreiberinnen, Dealer, Fahrradkurierinnen, Notfallsanitäter, Türsteher, Hostelrezeptionisten, also all jene, die sozusagen hinter den Kulissen dafür sorgen, dass der Laden läuft. Das sind jeweils einfühlsame Skizzen von Menschen, denen selten viel Beachtung geschenkt wird. Hier werden nicht die Funktionsträger beschrieben, sondern die Suchenden, Zweifelnden und Hoffenden mit ihren Abgründen, Freuden und Sehnsüchten. Und Thorsten Nagelschmidt gibt ihnen unverwechselbare Stimmen, die so echt klingen, so unterschiedlich, so eigen, dass man gar nicht mehr aufhören kann, mit ihnen immer weiter und schneller durch diese eine beschriebene Nacht zu rasen, in der sich ihre Wege auf unaufdringliche Art hier und da immer wieder mal kreuzen. Die Vielzahl der Stimmen, die er hier entwirft, ergeben den wahren Sound of Berlin, viel mehr, als das noch ein weiterer Bum-bum-Clubroman jemals hätte leisten können.
Auf See
Theresia Enzensberger kam sozusagen in letzter Sekunde von der Bahn in unseren Salon gestürmt, weil sie vorher in Hamburg lesen…
Theresia Enzensberger kam sozusagen in letzter Sekunde von der Bahn in unseren Salon gestürmt, weil sie vorher in Hamburg lesen musste, als – Herzlichen Glückwunsch!! – Nominierte für den Deutschen Buchpreis. Denn ihr – nach „Blaupause“ zweiter, – aktueller Roman „Auf See“ ist gleich nominiert worden! Es geht darin um die 17jährige Yada, die irgendwo in der Ostsee auf der Seestatt auswächst und lebt, einer künstlichen Wunschrepublik. Ihre Mutter, so wird ihr vom Vater erzählt, sei einst an einer seltsamen Krankheit gestorben, die Welt an Land mehr oder weniger untergegangen, weswegen die Seestatt der einzig mögliche Rückzugsort sei. Ihr Vater hatte diese einst gegründet, einerseits als Steuerparadies, andererseits als utopisches, staats- und herrschaftsfreies ökologisches Ideal-Land. Doch das Gebilde ist in die Jahre gekommen, die Algen wuchern, die Anlage vermodert, der Idealismus ist eingeschlafen. Yada scheint auch an einer seltsamen Krankheit zu leiden, bis sie mit Hilfe einer Freundin erfährt, wie sie seit langer Zeit hinters Licht geführt wird. Zugleich wird die Geschichte der Mutter erzählt, die eher durch Zufall von vielen plötzlich als Orakel gesehen und somit zur Sektenführerin wider Willen wurde – und dagegen ankämpft. Es geht um die Realisierbarkeit oder Unmöglichkeit von Utopien, um alternative Lebens- und Gesellschaftsentwürfe und auch um den Freiheitskampf zweier Frauen, die nicht in oft von Männern konstruierten (und verbockten) Umgebungen funktionieren wollen. Das hat Theresia toll konsturiert, spannend erzählt und glänzend geschrieben.
Auf Wiedersehen
Jasmin Ramadan ist vielen als taz-Kolumnistin („Einfach gesagt“) oder als Autorin des Romans „Soul Kitchen“ bekannt, der die Geschichte vor…
Jasmin Ramadan ist vielen als taz-Kolumnistin („Einfach gesagt“) oder als Autorin des Romans „Soul Kitchen“ bekannt, der die Geschichte vor Fatih Akins gleichnamigen Film erzählt. Zuletzt war von ihr „Hotel Jasmin“ erschienen – und jetzt, sozusagen ganz frisch: „Auf Wiedersehen“. Darin geht es um drei ehemals beste Freunde in Hamburg, die keinen Kontakt mehr zueinander haben, seitdem bei ihrer letzten gemeinsamen Reise der jüngere Bruder von einem der Dreien spurlos verschwunden und mutmaßlich auf unbekannte Weise umgekommen ist. Die drei Männer Mitte 40 stecken alle in einer Liebes-, Beziehungs- und Lebenskrise, jeder hat sein ganz eigenes soziales Trümmerfeld zu verwalten. Der notorische Kiffer und Fremdgeher Ben hat Angst vor dem Enthüllungsroman seiner Schriftstellerin Ex Leila, Mats hat Nikki, die Serienschauspielerin, die gerade wegen ihres Alters aus der Serie rausgeschrieben wird, wegen einer viel Jüngeren nach Berlin verlassen, und der ordentliche Linus war seiner Marlene dann doch zu öde und ist von ihr gegen eine neue Freiheit und den viel vitaleren Jupiter eingetauscht worden, zumindest mal kurzfristig. Und dann gibt es noch Verica, die einerseits froh ist, sich vom Alkoholiker Hendrik getrennt zu haben, aber dann doch verzweifelt und beunruhigt nach ihm sucht, als er verschwindet. Es sind alles zutiefst menschliche, verstörte, verzweifelte, zweifelnde, nach Liebe, Wärme und Halt suchende Charaktere, mit überraschendsten Quer- und Seitenverbindungen untereinander, die nicht aufgeben, nach einem besseren Leben zu suchen, nach Nähe und Gemeinschaft, nach wahren Werten und weniger Irrsinn. Und dabei wie nebenbei auch noch ihre gemeinsame Vergangenheit aufarbeiten und bewältigen. Diese Verwicklungen und Verbindungen all dieser anrührenden Figuren sind so treffsicher und lustig beschrieben, so originell und doch allgemeingültig, dass man gar nicht mehr aufhören kann, die Seiten zu verschlingen. Wenn das kein Film wird, verstehe ich die Welt nicht mehr…;)
Aus dem Dachsbau
Tocotronic-Frontmann Dirk von Lowtzows Buch „Aus dem Dachsbau“ kommt wie ein A,B, C Lexikon daher, liest sich aber dann doch…
Tocotronic-Frontmann Dirk von Lowtzows Buch „Aus dem Dachsbau“ kommt wie ein A,B, C Lexikon daher, liest sich aber dann doch wie ein Entwicklungsroman, der auch für Nicht-Fans überraschend unterhaltsam und erhellend ist.
Benito
Hendrik Otremba (Sänger der Post-Punk Band Messer, bildender Künstler, Journalist und Schriftsteller) hat nach „Über uns der Schaum“ und „Kachelbads…
Hendrik Otremba (Sänger der Post-Punk Band Messer, bildender Künstler, Journalist und Schriftsteller) hat nach „Über uns der Schaum“ und „Kachelbads Erbe“ jetzt mit „Benito“ ein großartiges, monumentales Werk vorgelegt, das auf zwei Zeit-Ebenen spielt: Im Jahr 1995 gehen die sechs Pfadfinder mit den Spitznamen Cherubim (Erzähler des Buches), Maus, Kippe, Fliegentöter, Benito und Ugur mit ihrem „Häuptling“ auf Kanu-Wanderfahrt quer durchs Ruhrgebiet. Ihr Anführer wird kurz nach Antritt der Fahrt bei einem Jagdunfall erschossen, die verstörten und führungslosen Jungen beschließen in ihrer Panik und Not, die Fahrt einfach fortzusetzen. Bald schon können sie Wahn und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderhalten, ihre Welt, ihre Wahrnehmung, alles zerfließt. Und der blinde, zurückhaltende Benito öffnet ihnen plötzlich einen ganz neuen Blick auf die Realität. Im zweiten, parallel laufenden Erzählstrang, erleben wir im Jahr 2026 einen rätselhaften politischen Anschlag, dessen Zeuge Cherubim wird, bei dem der blinde Benito eine tragende Rolle spielt und dessen Wurzeln scheinbar bis zu der dramatischen Flussfahrt von einst reichen. „Benito“ wirkt auf den ersten Blick wie eine Mischung aus Abenteuerroman und Politthriller, aber schnell merkt man: Es geht um viel mehr, es geht um alles. Um unseren Zugang zur Welt, um unser Verhältnis zu Erinnerung, Wahrheit, Freundschaft, Verantwortung, Freundschaft, um unseren Umgang mit den Randständigen und dem Elend der anderen – und um Konsequenz. Beeindruckend.
Bob Dylan
Als Wolfgang Niedecken vor ein paar Jahre gefragt wurde, ob er Lust hätte, an einer Bob-Dylan-Doku fürs TV mitzuwirken, antwortete…
Als Wolfgang Niedecken vor ein paar Jahre gefragt wurde, ob er Lust hätte, an einer Bob-Dylan-Doku fürs TV mitzuwirken, antwortete er nur: „Ist der Pabst katholisch?“ Für ihn ist der amerikanische Singer und Songwriter „einer der wirkungsmächtigsten Poeten der vergangenen 60 Jahre“, einer seiner Fixsterne, ohne die er wohl nie selbst Sänger geworden wäre. Ein Sänger, der als vielfach preisgekrönter Musiker, Maler und Autor (Bundesverdienstkreuz + Verdienstkreuz 1. Klasse für soziales und politisches Engagement) einer der erfolgreichsten deutschen Künstler überhaupt ist. Nach dem Studium der Freien Malerei gründete er 1976 schon BAP, machte Kölsch sozusagen zu einer Weltsprache und verkaufte mit der Band Millionen Tonträger, war aber auch parallel als Solokünstler und mit eingekölschten Bob Dylan Covern erfolgreich („Leopardefell“). 2011 veröffentlichte er „Für ne Moment“, seine Autobiographie, nach einem Schlaganfall erschien 2013 „Zugabe – Die Geschichte einer Rückkehr“. In dem jüngsten Buch „Bob Dylan“ beschreibt er jetzt die persönlichen Erlebnisse, Gedanken und Eindrücke während des Drehens der Bob-Dylan-Doku fürs Fernsehen, die ihn nach Washington, New York, Woodstock, Hibbing, Duluth, San Francisco San Diego und New Orleans führte. Alles Orte, die für das Verständnis von Dylan wichtig sind. „Elvis hatte unsere Körper befreit, Dylan unseren Geist“, hatte der Boss, Bruce Springsteen, einmal gesagt. Wolfgang Niedecken schreibt: „Das war wie Blitzeinschlag, er hat den Rock´n´Roll vorm Verblöden bewahrt.“ Wir treffen mit Niedecken alte Dylan-Weggefährten und Nachbarn, erkunden wichtige Orte – und immer wieder eben auch die Geschichte des BAP-Frontmannes, der sich hier als echter Fan, Experte und leidenschaftlicher Musikmensch weit öffnet und tiefe Einblicke gewährt, die spannend sind und niemand kalt lassen.
Brüder
Die Berliner Schriftstellerin Jackie Thomae las aus ihrem Roman „Brüder“, der 2019 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand.…
Die Berliner Schriftstellerin Jackie Thomae las aus ihrem Roman „Brüder“, der 2019 auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand. Den gewann sie zwar nicht, dafür aber den Düsseldorfer Literaturpreis – und unsere Buchpreisträgerin der Herzen war und ist sie ja sowieso. In „Brüder“ geht es um die Halbgeschwister Mick und Gabriel, die lange nichts voneinander wissen. Ihr gemeinsamer Vater Idris aus dem Senegal war einst als Werksstudent in der DDR und hatte mit zwei Frauen Kinder. Es hat ihnen, wie es an einer Stelle heißt, nichts hinterlassen, nur die Hautfarbe. Mick und Gabriel sind völlig verschieden. Mick ist ein echtes Kind der 90er und genießt die unendlichen Freiheiten des Techno-Berlin in den 90ern mit Clubs, Musik und Drogen. Gabriel ist ein weltweit erfolgreicher Architekt in London, ehrgeizig und kommunikationsgestört. Ihre Hautfarbe ist für beide kein Thema, nur für die anderen. Gabriel bemerkt einmal: Hautfarbe als Distinktionsmerkmal ist die Grundlage für jede Art von Rassismus. Die Einzigen, die sich daran orientieren dürften, sind bekennende Rassisten. Jackie Thomae schildert die bewegenden und faszinierend unterschiedlichen Leben der „Brüder“, wobei die schwergewichtigen Themen Generation, Epoche, Ost- Westidentität und Hautfarbe völlig unaufdringlich mitschwingen ohne je zentrales Anliegen im Leben der beiden werden. Es um viel: Was macht uns zu dem, was wir sind? Ein großes Buch, ein großer Roman.
Ciao
Unsere Freundin Johanna Adorján, Bestsellerautorin und Journalistin, hat sich in ihren einfühlsamen („Eine exklusive Liebe“, Bestseller über den gemeinsamen Freitod…
Unsere Freundin Johanna Adorján, Bestsellerautorin und Journalistin, hat sich in ihren einfühlsamen („Eine exklusive Liebe“, Bestseller über den gemeinsamen Freitod ihrer Großeltern), klugen und oft auch lustigen Büchern („Meine 500 besten Freunde“, „Geteiltes Vergnügen“ und „Männer. Einige von vielen.“) immer wieder als scharfsinnige Gesellschafts-Beobachterin, als Medien-, Beziehungs-, Liebes- und Männerexpertin bewiesen. In ihrem Roman „Ciao“ bringt sie all diese Expertise auf sehr unterhaltsame Weise zusammen: Der alternde Hans Benedek ist/war ein wichtiger Feuilletonautor, ein deutscher Spesenritter von der aussterbenden Sorte, die sich ohne Socken in den Loafers immer besonders locker und italienisch vorkommen. Die neuen Zeiten mit ihrer Identitätspolitik, gendersensiblen Sprache und selbstbewussten jungen Frauen verwirren und verunsichern ihn erheblich. Er will gegen seinen spürbaren Bedeutungsverlust ankämpfen und lässt sich von seiner Frau überzeugen, ein Porträt der 24 Jahre alten Influencerin und Feministin Alexandra „Xandi“ Lochner zu schreiben, die auf YouTube berühmt ist und jetzt auch noch Bestsellerautorin wird. Es kommt zu einem Treffen, sie scheinen sich irgendwie zu verstehen, doch Benedek merkt nicht oder erst zu spät, wie verhängnisvoll die Begegnung rückblickend doch war. Das Geniale an dieser tollen Gesellschafts- und Mediensatire im unnachahmlichen Adorján-Style ist, dass sie ambivalent ist und Gut und Böse weit weniger klar erkennbar sind, als man anfangs vermuten könnte. Übrigens glaubten lustigerweise so viele (ältere) Journalisten aus der ganzen Republik im Buch auf jeden Fall so viele echte Kollegen zu erkennen – aber natürlich jeder immer andere -, dass man festhalten kann: In diesem Roman steckt so oder so sehr viel Wahrheit 😉 Ein großer Spaß!
Cooper
Als Erster las Jens Eisel aus seinem spannenden Roman „Cooper“ beim 2. Writers´ Thursday in Hamburg im Tonstudio der Clouds…
Als Erster las Jens Eisel aus seinem spannenden Roman „Cooper“ beim 2. Writers´ Thursday in Hamburg im Tonstudio der Clouds Hill Group. Die Geschichte basiert auf einer echten Flugzeugentführung aus dem Jahr 1971 in den USA: Ein Unbekannter drohte auf dem Flug von Portland nach Seattle mit einer Bombe im Koffer und zwang die Maschine zu einer Zwischenlandung, bei der er 200 000 Dollar und vier Fallschirme verlangte – und bekam. Er ließ alle übrigen Passagiere aussteigen, die Besatzung musste an Bord bleiben. Beim Weiterflug sprang er aus der Passagiermaschine ab – was bei den damaligen Flugzeugen tatsächlich noch möglich war. Weder der Mann noch das Geld wurden je gefunden (bis auf eine kleine Summe mitten in der Wildnis, Jahre später). Der Fall wurde zu einer Mediensensation, Fernsehen und Presse tauften den Unbekannten „Dan Cooper“, 2016 erst stellte das FBI die Nachforschungen ohne Ergebnis ein. Der Fall ist schon mehrfach künstlerisch aufgearbeitet worden, Jens Eisel liefert eine ganz eigene, stimmig erscheinende, packende Version der Ereignisse in dieser „true crime“ Story. Aus der Perspektive des Entführers „Richard“, des Piloten George und der Stewardess Kate wird die Geschichte eines verzweifelten und einsamen Vietnamveteranens sehr nüchtern und daher umso eindringlicher erzählt, der sich mit der Tat aus all den Zwängen seines Lebens endgültig befreien will. Der schnörkellose Dokuroman entwickelt so seinen ganz eigenen, faszinierender Sog, die Abläufe wirken real und fantastisch zugleich. Spannend!
Das große Blau
Katja Eichinger kennt die glamourösen und die halbseidenen Seiten der schönen Côte d’Azur - und liebt sie beide auf ihre Art.
Katja Eichingers neues Buch „Das große Blau“ ist eine große Liebeserklärung an die Cote d`Azur (mit den kongenialen Fotos von Christian Werner!). Die Spezialistin für Neurosen (aus ihren Büchern „Mode und andere Neurosen“ und „Liebe und andere Neurosen“ hat sie schon beim Writers´ Thursday gelesen) fährt seit 30 Jahren an die Südküste Frankreichs und lässt sich dort aufs immer Neue dort von den Farben des Meeres, den Gerüchen, den Menschen und den gesellschaftlichen Brüchen verzaubern. Denn auch davon gibt es an diesem Sehnsuchtsort an jeder Ecke reichlich. Einst zog es hier Menschen hin wie Friedrich Nietzsche, Coco Chanel, Marlene Dietrich oder Pablo Picasso, später Popstars wie die Rolling Stones Geld. Zum Jet-Set gesellt sich heute der Easy-Jet-Set. Unter dem blauen Himmel des Mittelmeers treffen hier Glamour und Trash aufeinander, Macht und Voyeurismus, Superyacht und Billighotel, Eleganz und Betrug, Upper Class und Halbwelt. Katja Eichinger kennt die schönen und die unangenehmeren Seiten der Traumküste, die Hysterie in den Tagen der Filmfestspiele von Cannes genauso wie den friedlichen Alltag, wenn die Journalisten- und Touristenhorden wieder abgezogen sind. Sie beobachtet all diese Szenen mal staunend, manchmal belustig oder irritiert, aber immer mit großer Leidenschaft und – Liebe. Wer diesen Landstrich kennt, entdeckt neue Facetten, wer ihn noch nicht kennt, will sofort selbst hin. Die Sehnsucht ist geweckt.
Der Ausflug
Eine höchst dramatische Konstellation beschreibt der Autor Dirk Kurbjuweit in seinem zehnten (zuletzt: „Haarmann“) Roman „Der Ausflug“: Vier moderne Bewohner…
Eine höchst dramatische Konstellation beschreibt der Autor Dirk Kurbjuweit in seinem zehnten (zuletzt: „Haarmann“) Roman „Der Ausflug“: Vier moderne Bewohner einer ungenannten deutschen Großstadt wollen ein paar Tage auf dem Land verbringen, eine romantische Kanuexpedition durch kaum bewohntes Gebiet und ohne Internetverbindung ist geplant. Das sind Amalia, ihr jüngerer Bruder Bodo sowie Gero und Josef, zu dem Amalia, wie später offenbar wird, einst eine intensive Liebesbeziehung hatte. Doch auf dem Trip, der so heiter beginnt, liegt kein Segen – wegen einer überaus feindseligen Landbevölkerung, wie sie schon bei dem ersten Halt in einer Gaststätte deutlich merken. Die Gäste machen sehr klar, dass zumindest einer von ihnen, Josef, ein schwarzer Deutscher, hier nicht gewünscht wird. Der unverhohlene Rassismus schockt die Reisenden, aber sie wollen sich ihren Ausflug nicht vermiesen lassen. Doch in den folgenden Stunden und Tagen wird die Bedrohung immer größer und konkreter. Wie unheimliche Schatten folgen ihnen einige Männer und übermitteln ihnen schließlich eine Pistole mit einer Kugel und der Aufforderung: Erschießt innerhalb von 24 Stunden den Schwarzen – oder ihr werdet alle sterben. Und bald machen sie sehr klar, wie ernst sie das meinen. Die existenzielle Bedrohung treibt Keile in das eigentlich unverbrüchlich wirkende Freundschaftsgefüge und zeigt, was Rassismus auch mit jenen macht, die glauben, nicht unmittelbar seine Zielscheibe zu sein. Es geht um den dünnen Firnis der Zivilisation in feindlichster Umgebung, um die Belastbarkeit von Solidarität und Freundschaft und schuldhafte Verstrickung. Harter, spannender Stoff, der einen noch lange nach der Lektüre beschäftigt.
Der beste Mensch der Welt
Panik Panzer alias Tobias Pongratz wurde in Aachen geboren, ein wohl recht harter Schicksalsschlag, den er bald in kreative Energie…
Panik Panzer alias Tobias Pongratz wurde in Aachen geboren, ein wohl recht harter Schicksalsschlag, den er bald in kreative Energie umzuwandeln wusste. Nach diversen musikalischen Versuchen gründete er mit seinem Bruder Danger Dan und Freunden 2009 die „Antilopen Gang“, heute mit Abstand einer der interessantesten, progressivsten und schlausten Hiphop-Formationen aus dem deutschsprachigen Raum. Und politischsten: Schon 2014, als dem NSU der Prozess gemacht wurde, veröffentlichten sie den Song „Beate Zschäpe hört U2“, gegen den der sogenannte Ken FM, ein sehr rechter Publizist, der sich beleidigt fühlte, klagte – und natürlich verlor. Das war alles von der Kunstfreiheit gedeckt, schon damals. Mit Titeln wie „Atombombe auf Deutschland“ und der Wiederentdeckung alter Punkklassiker (etwa von: Slime), bildete die heute dreiköpfige Antilopen Gang eine ganz eigene Klasse. Um so mehr ärgerte sich Panik Panzer über die Angeber-Bücher aus Hiphop-Kreisen von Leuten wie Haftbefehl, Xatar oder Bushido. Darin geht es immer nur um eine Perspektive: Wer ist der Größte, Härteste, Kriminellste, Geilste, Durchtriebenste, Brutalste. Als auch noch Kollegah sein albernes Testosteron-Buch veröffentlichte – „Das ist Alpha – Die 10 Boss Gebote“ – wusste der bescheidene Mann aus Aachen: Er muss zurückschlagen und allen zeigen, wer er, Panik Panzer, wirklich ist – und der Titel bringt es so sachlich wie nur möglich auf den Punkt: „Der beste Mensch der Welt“. An diesem Abend in Berlin las er die Episode „Licht an im Club – Wie ein Türsteher mir mal das Leben rettete“. Und alle im Saal wussten danach: Ja, der Buch-Titel stimmt. Toll.
Der Onkel
Der österreichische Schauspieler, Drehbuchautor und Moderator Michael Ostrowski lieferte die Rockshow des Abends: Er hat mit „Der Onkel“ ein krachendes…
Der österreichische Schauspieler, Drehbuchautor und Moderator Michael Ostrowski lieferte die Rockshow des Abends: Er hat mit „Der Onkel“ ein krachendes Debüt hingelegt, sozusagen den Roman zum gleichnamigen Film, den er mit Anke Engelke gedreht hat, der aber in Deutschland (noch) keinen Verleih hat. Das Buch ist dennnoch ein ganz und gar eigenständiges, irres Werk. Es geht um Mike Bittini, ein Herumstreuner und undurchsichtiger, cooler Typ, der nach 17 Jahren plötzlich in weißen Lederboots mit seinem Ford Escort und Waffe im Handschuhfach vor der Villa der Schwägerin Gloria aufkreuzt. Deren Mann Sandros, sein Bruder, ist ins Koma gefallen. Einst waren Mike und Sandros unzertrennlich, Sauf- und Raufbrüder, dann brach alles auseinander, die Gründe bleiben zunächst unklar, aber es knistert von der ersten Seite an. Aus der Ferne hat Mike den steilen Aufstieg des Immobilienanwalt-Bruders verfolgt. Gloria scheint nicht glücklich über Mikes Auftauchen zu sein und will, dass er wieder geht. Denn einst kannten sie sich sehr gut, hätten ein Paar werden können, bis Mike einfach abhaute. Und ist ihre Tochter Stefanie vielleicht sogar sein Kind? Nach und nach werden immer mehr dunkle Familien-Geheimnisse gelüftet. Denn der Bruder war in massive Korruptions- und Betrugsgeschäfte verwickelt, seine Gläubiger sind dem Geld auf der Spur. Und auch der neurotische Polizist, der nebenan wohnt und dessen Frau, die nicht nur Mike, sondern auch Sandros nicht nur als Nachbarn von früher zu kennen scheint, haben ihre Emotionen und Geheimnisse kaum noch im Griff. Es geht um Liebe, Rache, Gaunereien, Verbrechen und verwüstete Wohnzimmer, um Lügen, Blut und Niedertracht, das ist völlig durchgeknallt und extrem lustig, sozusagen Österreich at its best. Und Michael Ostrowski las seinen Text nicht vor, er führte ihn vor, führte ihn praktisch auf, leise, laut, brüllend, rappend, mit gereckter Faust und bestens gelaunt, begleitet von einer famosen Band, what a show!
Der stärkste Stoff
Als Norman Ohler seiner Mutter LSD gab: Norman Ohler hatte schon mit seinem Weltbestseller (New York Times und Los Angeles…
Als Norman Ohler seiner Mutter LSD gab: Norman Ohler hatte schon mit seinem Weltbestseller (New York Times und Los Angeles Times Bestseller) „Der totale Rausch“ über Drogen im Dritten Reich eindrücklich bewiesen, dass er in Archiven Dokumente finden und auszuwerten weiß, die niemand sonst beachtet – und dass er sich mit der Geschichte der Drogen extrem gut auskennt. „Der stärkste Stoff“ ist in gewisser Weise die Fortsetzung dieser hochspannenden, aufregenden Geschichte. Es geht um die Jagd der Geheimdienste nach einer „Wahrheitsdroge“ in den Nachkriegsjahren, die ersten Jahre des Kalten Krieges. In psychedelischen Drogen wie LSD sahen sie den Stoff, den sie suchten – währen Konzerne wie Sandoz an Milliardenmärkte für neuartige Medikamente dachten. Denn mit LSD (und auch Psilocybin), so die ersten Erkenntnisse, konnte man Psychosen, Depressionen, Elipsie und Schizophrenie möglicherweise erfolgreich behandeln. Warum all diese hoffnungsvollen Ansätze in dem sinn- und erfolglosen „War on drugs“ der amerikanischen Regierung untergingen und gestoppt werden mussten, warum 50 Jahre vergeudet wurden und heute weltweit so viel Hoffnung in diese Stoffe zur Behandlung von posttraumatischen Belastungsstörungen, Alzheimer und vielen anderen Dingen gesetzt wird, das erzählt Norman wie einen Kriminalfall, der einen mitzittern lässt. Der anrührendste Teil ist aber das Kapitel „LSD für Mama“, in dem er – und seine ganze Familie – mit seiner dementen Mutter Microdosen von LSD nimmt und sieht, wie positiv sich der Stoff auf sie auswirkt. Wir freuen uns schon auf eine Fortsetzung…
Der Vorweiner
Bov Bjerg, der mit seinem Besteller „Auerhaus“ vor vielen Jahren schon einen Klassiker geschaffen hat und zuletzt mit „Serpentinen“ (2020)…
Bov Bjerg, der mit seinem Besteller „Auerhaus“ vor vielen Jahren schon einen Klassiker geschaffen hat und zuletzt mit „Serpentinen“ (2020) auf der Shortlist für den Buchpreis stand, bewegt sich mit „Der Vorweiner“ in einer dystopischen Zukunft: Gegen Ende des Jahrhunderts ist die Welt durch Bürgerkriege zerstört und parzelliert, die Klimakatastrophe hat viele Länder untergehen lassen, das sogenannte Westresteuropa muss durch immer höhere Betonmauern vor den steigenden Fluten geschützt werden. Flüchtlingsboote, die sich nähern, werden mit Torpedos versenkt, wer es bis zum Rand schafft, wird zurück ins Wasser gestoßen. In den wenigen Lagern drängeln sich dänische, ghanaische und holländische Flüchtlinge, Sehenswürdigkeiten wie Neuschwanstein sind Auffanglager, Touristen gibt es eh keine mehr. Die Gesellschaft ist gespalten in eine Oberschicht und eine Niederschicht, es gibt Menschen, die fristen ihr Dasein als „Klickbeuter“, die mit Fake News Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die Oberschicht verhält sich politisch korrekt, kann aber keine Gefühle mehr zeigen. Weil aber nur der ein gutes Leben gelebt hat, der am Ende deutlich betrauert wird, halten sich alle „Vorweiner“, die meist aus der Niederschicht stammen und während der Lebzeiten der Arbeitgeber möglichst gut behandelt werden sollen, damit sie dereinst am Grab desselben möglichst überzeugend und für alle sichtbar trauern. Die Vorweiner wiederum sichern sich so einen guten Lebensstandard, wie Jan, dessen Familie auf einem Floß über dem versunkenen Holland leben muss, der es aber als „Vorweiner“ für „A wie Anna“ aufs Festland geschafft hat. Deren Schwester, „B wie Berta“ erzählt die Geschichte aus einer Welt, in der es keine Friedhöfe mehr gibt, weil die Erinnerung an das Sterben sensible Menschen zu sehr irritieren könnte und Beerdigungen als „Zerstreuungsfeiern“ inszeniert werden. Und in der sich doch alles um den richtigen Abgang und die Sehnsucht nach echten Gefühlen dreht. Ein angenehm verstörender, vielschichtiger Ausblick mit makaber-lustigen Beschreibungen und Situationen, in denen man immer wieder über die Schatten unserer heutigen Wirklichkeit stolpert.